Marianne, geldlos, geltungslos, von ihrem Alfred erniedrigt, muss im Kabarett, in der Rotlichtwüste der Amüsiermeilen, tanzen. Und Mariannes Vater (Roman Kaminski), der sich in diesem Etablissement eben noch selber aalte, im Wohlgefühl der ruchlosen, aber befreienden Gier - er sieht seine Tochter, er erstarrt. Und er stößt sie, die sich ihm verzweifelt zuneigt, mit kältester Hand zurück. Im verklemmten Altmännerkörper, der sich noch einmal eine Lust abquetscht und ausschwitzt, meldet sich General Moral zurück. So werden Menschen quasi zu Erschießungskommandos: Was am Rande lebt, ist unwert. »Geschichten aus dem Wiener Wald« von Ödön von Horváth am Berliner Ensemble, inszeniert vom künftigen Intendanten des Leipziger Schauspiels, Enrico Lübbe.
Marianne will lieben. Fleischer Oskar (Boris Jacoby) will das auch. Leider liebt ausgerechnet er die Marianne, und er liebt sie mit einer bauchspeckigen Glanzpose, ein bisschen auch so, als hätte man einen Androiden programmiert. Da bietet sich der Marianne ein Ausweg: Alfred (Sabin Tambrea). Jetzt könnte der Eigensinn erwachen. Aufs »könnte« kommen wir noch.
Die Garnierung der traurigen Szene: die alternde, daher besonders sehnsüchtige Kiosk-Bewirtschafterin Valerie (Angela Winkler), ein Nazi-Student (Ulrich Brandhoff)), ein erzblöder Rittmeister (Axel Werner), Alfreds Mutter, die ein klobiger treuherziger Durchhaltemensch ist (Claudia Burckhardt), und Alfreds Oma (Gudrun Ritter, die sich als tonschmetternde, kindstötende Vollstreckerin aufschwingt. Ein Weltekel-Aufschwung, übern Krückstock gebeugt. Den sie werfen kann wie eine Granate. Und Alfred selbst? Wird ein verzweifelt erfolgloser Vertreter. Wo Oskar Fleischer ist, ist er die feige Sau, der Marianne erst das Kind und sich dann aus dem Staub macht. Die Valerie vom Kiosk grüßt er so: »Hallo, du fünfzigjähriges Stück Scheiße!«
Wiener Wald? Bei Lübbe eine hohe Bodenwelle. Oder Donauwelle, zur Endmoräne gefroren. Von weit hinten kommen alle auf uns zu, gehen durchs Bodenwellental. Stehen meist. Menschen? Zeichen. Kein Innenraum hier, aber auch die Außenwelt ist keine Welt. Der Blick auf diese Bühne bringt nur Gefühle, die man bei der Ansicht technischer Anordnungen bekommt. Keine. Klarsicht, wie sie leere Kühlschränke bieten.
Horváth ist eine einzige Wien-Austreibung mittels Wien. Ein paar weiche österreichische Breitmauligkeiten, und schon weiß man, warum Thomas Bernhard Österreich sagte und Faschismus meinte. Leider ist Lübbe unbarmherzig überraschungslos. Ein Stimmungsmörder. Er lässt Gitter herab, wenn das Stück urplötzlich nach einer Psychologie verlangt. Die doch fortwährend auf ihre traurige Gelegenheit wartet. »Ich kann nicht mehr«. Mariannes letzte Worte, wenn sie der Oskar endlich hat. Das Tödliche am Leben ist das Bewusstsein, an diesem Leben leider nicht rechtzeitig gestorben zu sein.
Wie war der Satz? Jetzt könnte der Eigensinn erwachen. Er erwacht gegen den Gemeinheitssinn. Hier aber hat keiner was Eigenes, just dies beschädigt das Grauen der Gemeinheit aller. Früh liegt Erkenntnis über der leeren Szene und erstickt sie mit reinster Wahrheit. Aber die reine Wahrheit ist keine, und Erkenntnis ist kein Kunstziel. Erfahrung, das wäre ein Ziel. Mit-Leid. Und noch die Kälte müsste sich uns anbieten wie eine Schöne. Hier ist alles schön übersichtlich. Unschön.
Und: Was Gestalten nicht miteinander tun (Ton, Haltung gehen lang und viel ins Publikum) - es müsste doch etwas bleiben, das Schauspieler miteinander tun. Der Marianne von Johanna Griebel die Hände in den Mantel zu stopfen, sie in Unbeweglichkeit einzukerkern, raubt einer anrührenden Schauspielerin die Freiheit. Einzig Angela Winklers Körper hat Ohren und Augen fürs Lebendige, Regie kommt ihr nicht schädigend bei. Und da ist noch Gudrun Ritter, Jahrzehnte groß am Deutschen Theater (überhaupt: Peymanns BE als Exilort für Legenden aus der Schumannstraße: Lang, Keller, Grashof, Langhoff, Mann, Schubert, Manzel!). Ritter spielt als Großmutter eine 100-jährige Stahlrute aus welkem, hartem Fleisch. Spielt so, als sei das Böse die Erlösung. Während Lübbes Regie ein Warnschild vors Böse stellt. Er handelt richtig, redlich. Das Richtige, Redliche ist der Feind erschütternder Kunst.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/231579.ein-leben-in-feisten-haenden.html