nd-aktuell.de / 20.12.1990 / Politik / Seite 9

Hat eine Tracht Prügel noch keinem geschadet?

Mißhandelte Kinder. Obwohl es sie auch in der DDR gab, obwohl man sich bei der Jugendhilfe, in Kindereinrichtungen um sie kümmerte und zu helfen versuchte, wurde das Thema von den Regierenden für tabu erklärt. Unter dem Motto: „Was im Sozialismus nicht sein darf, existiert nicht“ wurde Gewalt gegen Kinder wie viele andere „brisante“ Themen kaum umfassend untersucht. ND fragte die jetzige Leiterin des Kinderschutzzentrums Magdeburg und frühere stellvertretende Bezirksärztin OMR Dr. Bärbel Goedicke: Warum begannen Sie 1985 trotzdem, sich mit dieser Frage zu beschäftigen?

Als Kinderärztin stellte ich in meiner Sprechstunde fest, daß Kinder Eltern nicht selten so „zu schaffen“ machen, daß Mutter oder Vater nur noch eine Antwort wissen– Schläge. Außerdem konnten Gerichtsmediziner nicht mehr glauben und auch nicht länger darüber hinwegsehen, daß ein Säugling – obwohl motorisch dazu noch nicht in der Lage – angeblich vom Wickeltisch gefallen sein soll, dabei ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt und starb.

Obwohl in der DDR seit 1967 schon der Verdacht auf strafbare Handlungen gegen Leben und Gesundheit meldepflichtig war, also Fakten vorgelegen haben mußten, gab es keine zusammenfassende Studie zu diesem Thema und demnach keine sozialen Konzepte, um den Betroffenen zu helfen. Vor fünf Jahren bat eine Gruppe Magdeburger Kinderärzte, Gerichtsmediziner, Fürsorger und Juristen in den Ministerien für Justiz und Gesundheitswesen um grünes Licht für

eine solche Studie. Die amtliche Reaktion war eine Absage. Es gäbe so wenig Fälle, es lohne nicht... Mit Hartnäckigkeit erreichten wir 1986 eine Ausnahmeregelung für den Bezirk Magdeburg und begannen im Herbst mit den Untersuchungen.

Wann, spricht man eigentlich von körperlicher Mißhandlung?

Das war in einer Auslegung des Obersten Gerichts der DDR definiert. Wenn als Folge von Gewalteinwirkung, beispielsweise^Hämatome, Schwellungen, Striemen bzw. verletztes Gewebe sichtbar sind; Leichtere Schläge erfüllen somit nicht den Tatbestand, wenngleich wir wissen, daß – auch bei körperlicher Unversehrtheit – die psychischen Folgen verheerend sein können.

Wie sahen die Untersuchungen konkret aus?

Wichtig war, möglichst viele Menschen, die beruflich mit Kindern zu tun haben – Ärzte, Schwestern, Erzieherinnen, Lehrerinnen, Fürsorgerinnen – für unser Projekt zu gewinnen. Wir hatten ein Formblatt erarbeitet, in dem Kriterien für die Feststellung und Beurteilung von Körperverletzungen aufgelistet waren. In der Berufsausbildung spielte das Thema Gewalt bei vielen keine Rolle und besonders Jüngeren erklärten wir deshalb: Wann liegt eine Mißhandlung vor, woran erkennt man sie. Das 5-Finger-Hämatom, wenn also alle Finger einer Hand blau auf dem Kind zu erkennen sind, ist typisch. Ein weiteres Paradebeispiel: der Spiralbruch an einem Säuglingsarm. Der passiert nur, wenn

zwei entgegengesetzte Kräfte wirken. Jährlich werteten wir unsere Ergebnisse aus, allerdings ohne öffentlich werden zu können.

Es gab unabhängig von uns in den Medien nur einen einmaligen Vorstoß zu diesem Thema von dem Berliner Kinderarzt Professor Cario in der „Gesundheit“ 1/1988.

Zu welchen Resultaten kam Ihre Gruppe?

Mit dem „Magdeburger Meldebogen“ stieg die Zahl der Anzeigen auf das Vierfache im Vergleich zu den Vorjahren. Insgesamt wurden in den drei Jahren 536 Fälle im Bezirk erfaßt. Darunter waren 42 Säuglinge, 278 Kleinkinder (2-5 Jahre) und 228 Schulkinder (6-16 Jahre). Insgesamt sind das 0,73 Prozent der Gleichaltrigen. Die 336 Knaben überwogen gegenüber 200 Mädchen. Zwei Drittel der Kinder erlitten leichtere körperliche Schäden. Sechs Kinder überlebten nicht. Wer schlägt so zu?

Die Untersuchung ergab, daß es zu 60 Prozent die leiblichen Eltern sind. Bei Lebenspartnern, Stiefvater oder -mutter sind es 10 bzw. fünf Prozent. Von einigen erhielten wir keine Angaben dazu.

Wer meldete die Mißhandlung?

Uns informierten 141 mal die Mutter, 15 mal der Vater, 328 mal Schule, Kindergarten oder andere Einrichtungen.

Kennen Sie die juristischen Konsequenzen?

Ja. Ein Fünftel aller Gerichtsverfahren wegen Kindesmißhandlung oder Vernachlässigung in der DDR wurde in unserem Bezirk verhan-

delt, obwohl hier nur ein Dreizehntel der Bevölkerung wohnte. Zehn Prozent der Verfahren endeten mit Freiheitsstrafen.

Warum werden Kinder gerade dort, wo sie eigentlich geliebt und behütet sein müßten, Opfer von Gewalt?

Oft sind unter den Mißhandelten sogenannte auffällige Kinder, die die Nerven Erwachsener durchaus strapazieren können. Behinderte, Frühgeborene mit Entwicklungsrückstand, übermäßig Lebhafte... Aber auch ganz normale Mädchen und Jungen gehören dazu, wenn sie den Erwartungen und Ansprüchen der Eltern nicht genügen.

Mehr als 30 Prozent der DDR-Babys kamen unehelich auf die Welt. Also auch das Problem späterer Partnerschaften -r- meine, deine, unsere Kinder, laxe oder strengere Erziehung von Geschwistern – spielt eine Rolle. Eine Gruppe für sich stellen Adoptiveltern dar, denen beim besten Willen die Erziehung über den Kopf wachsen kann. Denn eins ist erwiesen: Ein Kind aus gestörten Verhältnissen oder das jahrelang in Heimen lebte, ist geprägt.

Forschungen von BRD-Wissenschaftlern, die sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch einsetzen, ergaben, daß unerwünschter Nachwuchs eher ungeliebt ist und als Last empfunden wird.

Diese Erfahrung machte ich auch. Die Kinder passen nicht ins persönliche Lebenskonzept einer Mutter oder Familie und nicht immer ändert sich die ablehnende Einstellung während der Schwangerschaft oder nach der Geburt. In-

sofern können solche Mädchen und Jungen zum Sündenbock werden. Auch deshalb ist es Unsinn, den absoluten Schutz ungeborenen Lebens zu fordern. Kein Staat kann garantieren, daß Eltern und Kinder beste Entwicklungsmöglichkeiten erhalten. Als Ergebnis der Studie entstand die Idee, ein Angebot für Betroffene, das über die ärztliche Behandlung hinausgeht, zu schaffen. Seit Juni bewährt sich die Kombination von Psychologen, Ärzten, Pädagogen und Sozialarbeitern in unserem Kinderschutzzentrum. Wir gewährleisten Anonymität, stellen Hilfe vor Strafe. Unter dem Motto „bevor ich jetzt ausraste...“ kommen – ich nenne sie: die bewußten – Eltern zu uns. Wir erhalten aber auch anonyme Anrufe, gehen zu den Familien und erleben überraschend positive Reaktionen. In ihrer Hilflosigkeit nehmen die meisten unser Angebot an. Daß manche das Bedürfnis haben, alle 14 Tage zu kommen; daß sie allmählich ihre Verhaltensweisen ändern ist ein erster Erfolg. Die Betreuung kann Jahre dauern.

Es gibt die Redewendung: Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet. Ihre Meinung dazu?

Ich glaube, es gibt keine Familie, die ohne den Klaps auskommt. Aber es ist etwas anderes, wenn das zum ständigen Erziehungsmittel wird. Dadurch werden Kinder herabgewürdigt. Was die Würde ebenso beschädigt, ist die gewaltlose Methode des bewußten Liebesentzugs und der Vernachlässigung. Aber das ist ein anderes Thema...

Interview: CORINNA FRICKE