nd-aktuell.de / 10.08.2001 / Politik
»Es kann sich keiner vorstellen, was es heißt, frei zu sein«
Notizen über Regen auf ein Zeltlager, eine 15-jährige Gymnasiastin, hilfsbereite Punker und eine lebenslustige 82-Jährige
Wolfgang Rex
Das Wetter im Hinterland der Ostsee erinnert derzeit an die Sommer der 70er Jahre - die waren grundsätzlich verregnet. Nacht für Nacht klopfen auch jetzt Regentropfen auf die Zeltwände. Am Morgen lässt Sonne nur vorübergehend Hoffnung aufblitzen. Auf dem Wöbbeliner Sportplatz wirft der Sportplatzwart seinen Rasenmäher an und schneidet das Gras auf dem Fußballplatz. Rund um das kleine Vereinsgebäude sind Leinen aufgespannt und mit Sachen behängt, mit Hosen, mit T-Shirts, auch ein schwarzer BH baumelt da.
Der Morgen beginnt gemächlich. Erst einmal Kaffee kochen, vielleicht eine Scheibe Toastbrot essen: »Wir dachten, uns schwemmt es weg«, erklärt ein Mädchen mit schwarzem Kopftuch. 19 Mädchen und Jungen aus Schwerin, zwischen 14 und 27 Jahre alt, leben eine Woche in einem Großzelt auf dem Wöbbeliner Fußballplatz. Freiwillig. Wöbbelin findet man an der Straße zwischen Ludwigslust und Schwerin. Bis zur Landeshauptstadt sind es reichlich 20 Kilometer, bis nach Ludwigslust 8. Im Dorf Wöbbelin wurde Theodor Körner begraben. In den Befreiungskriegen gegen Napoleon fiel der Dichter als Angehöriger des Lützowschen Freikorps am 26. August 1813. »Zwischen Schwerin und Gadebusch« steht auf einem Gedenkstein. Auch Brüder und Schwestern Körners fanden in Wöbbelin ein Grab. Eine der Schwester, ist auf derem Grabstein zu lesen, konnte den Tod Theodors nicht verwinden und starb wenige Monate nach ihm, an »Nervenfieber«, wie es damals hieß. Die »Deutschen«, nicht nur die Patrioten, pflanzten in Wöbbelin rund um das Grab einen Ehrenhain, die Nazis bauten 1938 ein Theodor-Körner-Haus dazu.
Heutzutage finden sich im Körnerschen Ehrenhain 70 Grabplatten ohne jeden Namen. 1945 wurden hier auf Befehl der US-Militärbehörden Tote des KZ Wöbbelin begraben. Das KZ Wöbbelin wurde erst im Februar 1945 in den Todesstunden des Hitlerreiches eingerichtet, als so genanntes Außenlager des KZ Neuengamme bei Hamburg. Rund 5000 Häftlinge trieben die Nazis nach Wöbbelin und sperrten sie in einem vier Kilometer entfernten Waldstück auf engstem Raum ein. In fünf Baracken. Es gab keine sanitären Einrichtungen, nur eine Wasserpumpe.
Jens-Martin Krieg von der Schweriner AG Junge GenossInnen vermutet, dass den Häftlingen ein ähnliches Schicksal zugedacht war wie den Leuten auf der »Cap Arcona«: Tod in der Ostsee. Der polnische Häftling Janusz Kahl berichtete über das KZ Wöbbelin: »Täglich bekommen wir ein kleines Brot für zehn bis zwölf Mann und eine wasserähnliche Mittagssuppe. Mein Gewicht fiel auf 42 Kilogramm.« Als die 82. Luftlandedivision der US-Armee in den Wald bei Wöbbelin vordrang, waren mindestens 1000 Häftlinge gestorben. Divisionskommandeur James Gavin schrieb: »Wir konnten das Wöbbeliner KZ riechen, bevor wir es sehen konnten.«
An die Toten erinnern heute die Grabplatten ohne Namen und ein 1960 aufgestelltes Relief des Rostocker Bildhauers Jo Jastram. Die anderen Toten wurden in einem Waldstück in der Nähe des Lagers, in Schwerin, in Ludwigslust und in Hagenow begraben. Was hat das Zeltlager am Wöbbeliner Sportplatz mit diesen »alten Geschichten« zu tun?
Die »AG Junge GenossInnen« richtete am Rande der Gedenkstätte ein »Workcamp« ein. Die Arbeitsgemeinschaft ist nicht, wie vermutet, bei der PDS oder in der PDS angebunden, erklärt Jens-Martin Krieg. Es handelt sich um einen als gemeinnützig anerkannten und eingetragenen Verein. Der wird auch staatlich unterstützt. Gründer seien PDS-nahe Jugendliche gewesen. Mit dem Jugendverband der PDS arbeite der Verein zusammen wie mit anderen Verbänden. Auch mit den Jusos der SPD, sagt Jens-Martin Krieg.
Seit fünf Jahren gehen die Schweriner im Sommer nach Wöbbelin. In diesem Jahr soll über die Geschichte des KZ geforscht, am maßstabsgetreuen Modell des Lagers und an einem Videoprojekt gearbeitet werden. Bereits vor fünf Jahren hatten Mitglieder eines deutsch-italienischen Camps im Wald von Wöbbelin die Grundmauern der KZ-Baracken ausgegraben. Die Fundstücke würden nun restauriert und in den nächsten Jahren als Gedenkstätte geöffnet. Jens-Martin Krieg ist skeptisch, dass der von der »Stiftung Deutsches Holocaust-Museum Hannover« genannte Termin Mai 2002 gehalten werden kann. Nach seiner Ansicht wird es noch ein paar Jahre und ein paar »Workcamps« länger dauern.
In diesem Jahr ist die 15-jährige Peggy in Wöbbelin dabei. Die Schweriner Gymnasiastin erzählt, dass sie 2001 zu allen Demos gegen Neonazis in Mecklenburg-Vorpommern fuhr. Auch zu der im vorigen Monat in Rostock. Kaum sei der Bus angefahren, in dem sie saß, schon wurde er gestoppt. Das Mädchen wurde verdächtigt, zum »linksradikalen Spektrum« zu gehören. Polizisten überprüften ihre Personalien: »Das sei nur für den Tag, die Personalien würden nicht gespeichert«, hätten ihr die Polizisten versichert. Die 15-Jährige gehört vermutlich zu dem Personenkreis, den hierzulande Innenminister als reisende Gewaltchaoten abstempeln. Das Wort brachte der inzwischen als Schwarzgeldbeschaffer überführte frühere Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) in den bundesdeutschen Sprachgebrauch ein.
Peggy sieht das Problem ganz anders, nämlich bei den Genehmigungen für die NPD und deren Anhänger. Wenn die Nazis auf die Straßen gehen dürfen und ihre Kundgebung abhalten, dann möchte sie auch vor Ort sein und »hören, was da abgeht«. Und nicht meilenweit entfernt die Fäuste ballen.
Am Morgen nach dem Regen kommt Frieda Fritz, genannt Friedel, nach Wöbbelin in das »Workcamp« der Schweriner. Die 82-Jährige berichtet über ihre Leidensstationen in deutschen Konzentrationslagern. Sie lebte in Zehdenick bei Berlin, »in einer Zirkus- und Musikerfamilie«. Am 7. März 1943 holten die Nazis Frieda Fritz, Mutter und Vater sowie die Schwester mit vier Kindern. Die Familie sei »rassenpolitisch unerwünscht« und wird als »Zigeuner« abgestempelt. Im KZ Auschwitz-Birkenau sah Friedel zuerst den Vater sterben, dann die Mutter, drei Kinder der Schwester: »Nur das Baby der Schwester überlebte wie durch ein Wunder.«
Als die Rote Armee auf Auschwitz vorrückte, wurden Frauen, die die Nazis nicht mehr vergasen konnten, in das KZ Ravensbrück verfrachtet. Die Schwester von Frieda Fritz blieb mit dem Baby in Auschwitz: »Nach 1945 habe ich überall herumgefragt, aber nie wieder etwas von meiner Schwester und dem Kind gehört.« Von Ravensbrück ging der Häftlingstransport mit Frieda Fritz nach Schlieben, wo die Frauen Panzerfäuste zusammenbauen mussten. Schließlich landeten sie in Altenburg: »Am 20.April wurden wir von den Amerikanern befreit. Ich weiß, dass dieser Tag auch der Geburtstag des größten Massenmörders ist, für mich aber bleibt er der Tag der Befreiung. Das kann sich keiner vorstellen, was es heißt, frei zu sein.« Frieda Fritz kam nach Zehdenick zurück, heiratet den »besten Freund meines Bruders«, tritt gemeinsam mit ihrem Mann in die KPD ein. 1952 wird sie aus den Listen der SED gestrichen: »Das Geld hat nur für einen Parteibeitrag gereicht. Ich bin nie wieder in eine Partei eingetreten.« Mit dem Bruder zieht sie gleich nach 1945 ein »Ensemble« auf: »Wir haben Sankt Pauli gespielt, ohne Vorhang.«
Dann sang sie 45 Jahre lang in einem Ensemble der Post: »Als Solistin. Schlager habe ich gesungen.« Zum Abschied erhält sie von der Post eine Goldmedaille für die 45 Jahre: »Das Gold müsst ihr euch dazu denken.« Ihr Lächeln ist ansteckend.
Zwei Schweriner Schülerinnen bescheinigen ihr in einem Leserbrief an eine hiesige Zeitung, dass ihre Bescheidenheit und Wärme berührte. Schon zu DDR-Zeiten habe sie in Schulen über ihre Erlebnisse mit den Nazis berichtet, glücklicherweise sei sie auch nach 1990 wieder von Lehrerinnen gebeten worden zu reden, sagt Frau Fritz. Sogar vor mehr als hundert Ärzten in Rostock habe sie gesprochen. Dem größeren ihrer beiden Söhne antwortete sie auf die Frage nach dem Warum: »Damit das, was ich durchgemacht habe, nie wieder kommt.« Seit langem wohnt Friedel Fritz in Schwerin, ihr Mann war Eisenbahner und wurde in die damalige Bezirksstadt Schwerin versetzt. Als im vorigen Jahr der Gedenkstein für die Opfer des Faschismus in Raben-Steinfeld bei Schwerin offensichtlich von Neonazis beschmiert wurde, da lief an einem Sonntagmorgen Frieda Fritz die mehr als zwei Kilometer von ihrer Wohnung in Schwerin-Zippendorf bis zur Gedenkstätte, in der Hand einen Eimer und einen Lappen: »Aber mit Wasser ging die gelbe Farbe nicht ab.« Glücklicherweise seien ein Junge und ein Mädchen vorbei gekommen: »Die hatten bloß einen Streifen Haare auf der Mitte des Kopfes, alles andere abrasiert«, beschreibt sie die Punker: »Sie fragten, was ich da mache und ob sie mir helfen könnten.« Dann hätten die beiden Waschbenzin geholt und die Schmierereien abgewaschen. »Da sind mir die Tränen gekullert...«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/3141.es-kann-sich-keiner-vorstellen-was-es-heisst-frei-zu-sein.html