nd-aktuell.de / 29.03.2003 / Kultur

Die perfekte Maske ist ehrlich

Christina Matte
Werner Strauchmann, Chefmaskenbildner der Staatsoper Unter den Linden, wird 65 und will nicht aufhören.
Das wissen nur wenige: Vom Gebäude der Intendanz führt ein unterirdischer Gang unmittelbar ins Opernhaus. Ein langer kahler Tunnelgang, in dem die Schritte widerhallen und auf dessen Boden sich Wasser sammelt, das offenbar aus der Wand sickert. »Ich will es sehr freundlich ausdrücken«, sagt der Mann, der mir vorausgeht, weil er in den Vormittagsstunden, wenn die Oper geschlossen ist, Gäste auf diesem Weg in sein Reich schleust, »man hätte sich in den letzten zwölf Jahren durchaus auch mal darum kümmern können.«
Der Mann trägt schlichtes, edles Schwarz. Dass er sich hinreißen ließe zu fluchen, scheint so wenig vorstellbar wie ein Kaschmirschal bei Schimanski. Andererseits: Was ist, wie es scheint? Sind wir nicht gerade unterwegs in die Welt der Inszenierungen? Und ist er in dieser Welt nicht heimisch?
Später, als wir Stufen steigen - viele Stufen, denn sein Reich ist oben unterm Dach angesiedelt -, sagt er: »Ich jogge gelegentlich.« Auch dies kultiviertes Understatement. Denn nur, wer regelmäßig trainiert, schafft den Aufstieg, ohne zu hecheln. Diesmal darf ich mir sicher sein, keiner Illusion aufzusitzen: Werner Strauchmann, Chefmaskenbildner der Staatsoper Unter den Linden, ist in körperlicher Bestform. Er wird in Kürze 65.
Strauchmanns Arbeitszimmer ist klein. Papierstapel, Kisten, Erinnerungsstücke, Plakate und Bilder erzählen: sein privates Rückzugsgebiet, der Raum, in dem er liest und denkt, telefoniert und Korrespondenzen erledigt. In dem er den Lautsprecher anschalten und die Proben mithören kann - er drückt einen Knopf, Musik erklingt: »"La Traviata", Premiere am 12. April - nichts beruhigt so wie Gesang«. Abends, während der Vorstellungen, verfolge er das Geschehen freilich von seinem Logenplatz oder vom Bühneneingang: »Die wissen genau, dass ich dort stehe. Darsteller, die schlampig geschminkt sind, versuchen, sich vor mir zu verstecken. Aber ich sehe sie natürlich. Ich will wissen: Was war los? Musste es huschhusch gehen, weil Sie zu spät gekommen sind? Hat man sich schlecht um Sie gekümmert? Man muss immer dran bleiben, damit der Schlendrian nicht einreißt. Schlamperei kann ich nicht leiden.«
Werner Strauchmann, der Perfektionist. Als er 1993 vom BE zur Staatsoper wechselte, machte die einen exquisiten Fang: Knapp zehn Jahre später spricht man bewundernd, bezogen auf Kostüme und Maske, vom »eigenen Stil« der Staatsoper. Und dieser Stil trägt auch seine Handschrift. Beispielsweise »Schwanensee«: Alle Schwäne sehen gleich aus, anmutig und durchsichtig. Leicht berührt er meine Hand: »Und das nicht nur bei der Premierenvorstellung! Es ist wichtig, Abend für Abend diese Qualität zu bringen«. Der Chef der Maske lobt sein Team, die große organisatorische Leistung und die Disziplin, die es braucht, abends pünktlich fertig zu sein: »Der Chor kommt oft erst eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung. Dann sind hundert Leute zu schminken. Das geht nur, wenn jeder weiß, wen er zu schminken hat und wie. Und wenn wir eine Sprache sprechen. Wenn ich sage: "Nicht so dick", muss die Kollegin sofort wissen, was ich unter "nicht so dick" verstehe. So eine gemeinsame Sprache kann man erst mit der Zeit entwickeln.«
Vor zehn Jahren, als Strauchmann zur Staatsoper stieß, hatte der Teamgeist leicht gelitten. »Kostüm, Kostüm«, ruft er maliziös, seinen Seelenzustand von einst kopierend, wobei auch die aufflatternden Hände einen Hauch Theatralik liefern, »alles drehte sich nur ums Kostüm! Man darf sich nicht so unterdrücken lassen. Kostüm- und Maskenentwürfe entstehen im Arbeitsprozess als eine Einheit - ich setze die Maskenentwürfe um, mit eigenen Ideen, nicht sklavisch. Die Maske ist ja fürs Erzählen der Fabel genauso wichtig wie das Kostüm, die Beleuchtung, der Gang des Darstellers.«

Vielleicht muss ein Mann wie Strauchmann ja über seine Schulen reden. Weil es Schulen, wie er sie durchlief, kaum noch gibt. Weil heute jeder, »egal, ob begabt oder nicht, egal, ob er das Handwerk erlernte«, Maskenbildner werden könne. Es gebe Maskenbildnerschulen, die den Namen nicht verdienten, »weil sie falsche Hoffnungen wecken: Man braucht diese Leute gar nicht«. Man brauche Leute »mit Begabung, Fleiß und solidem Grundwissen«.
Was Strauchmann seine »Schulen« nennt, waren keine gewerblichen Einrichtungen. Es waren Menschen, die den jungen talentierten Friseur begeisterten, das intellektuelle Flair der Theater, die Lust zu lesen, sich zu beweisen, die Herausforderungen, die Aufgaben, der Ehrgeiz und das Glück, sie zu meistern. Ganz am Anfang allerdings hatte der Zufall seinen Auftritt: In Gestalt von Prof. Palm, des Palm, der an der Staatsoper Direktor für Kostümwesen war, was, als der Meister den Laden betrat, der kleine Friseur jedoch nicht ahnte. Trotzdem beschäftigte ihn dessen Frage, ob er sich nicht vorstellen könnte, eventuell Maskenbildner zu werden, und 1957 bewarb er sich an der Staatsoper Unter den Linden als Volontär. Erwähnenswert: Oper, Berliner Ensemble und Deutsches Theater bildeten ihren Nachwuchs gemeinsam aus, so dass sich die künftigen Maskenbildner mit den speziellen Erfordernissen von Oper und Schauspiel vertraut machen konnten. Strauchmann erklärt mir die Unterschiede: »In der Oper dominiert die Musik. Man kann zuhören, ohne hinzusehen. Beim Schauspiel funktioniert das nicht, man kann die Augen nicht einfach schließen.« Nach mehrjährigem Studium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden entschied sich Strauchmann für das BE. Die größte aller Herausforderungen. Und die Schule seines Lebens. Die großen Maskenstücke Brechts: Im »Kreidekreis« wurden zum ersten Mal Voll- und Halbmasken verwendet. Beim »Ui« und beim »Coriolan« war Strauchmann bereits federführend. Von 1976 bis 1993, beinahe zwei Jahrzehnte lang, wirkte er am BE als Chefmaskenbildner. »Wir waren das führende Theater nicht nur Europas«, blickt er zurück, »und ich bin überzeugt davon, irgendwann wird das Brecht-Theater eine Renaissance erleben.« Das Gute an Überzeugungen: Man muss sie nicht begründen können. Und man kann sie nicht widerlegen.
Ein Bildnis Helene Weigels, einer Weigel mit kämpferisch gerecktem Kinn, gehört zur Ausstattung seines Zimmers. »So war sie«, sagt er, »Herrisches, aber auch Gütiges in den Zügen.« Er erzählt, wie sie ihn eines Tages, er war noch Neuling, aufforderte: »Mensch, jetzt machste einfach mal mich!« »Nee«, habe er geantwortet, er würde sich das noch nicht zutrauen. Er »machte« sie dennoch, und es war ganz einfach, »bei ihr ist es immer einfach gewesen.« Sie habe ihn geschätzt und gefördert. »Keiner von uns verdiente viel. Doch sie kümmerte sich, war wirklich ne Mutter - so ne Intendantin hatte ich nie wieder.«

Wenn jemand wie Strauchmann Geschichten erzählt, geraten sie immer zu Geschichte. Er saß mit Komponisten wie Hanns Eisler, Paul Dessau, Hans Werner Henze und Luigi Nono in der Kantine beim Mittagessen. Er hat mit Regisseuren wie Erich Engel, Peter Palitzsch, Manfred Wekwerth, B.K. Tragelehn, Einar Schleef, Ruth Berhaus, Christoph Schroth, Heiner Müller, Horst Sagert, Fritz Marquardt, Manfred Karge, Matthias Langhoff, Peter Zadek, Laurence Olivier, Giorgio Strehler, Jurij Ljubimow, Elia Kazan, Vittorio de Sica und George Tabori gearbeitet. Am liebsten mit »Wekwerth - in seiner großen Zeit«. Zu Zadek hatte er »keinen Draht, da wurde man überhaupt nicht gefragt«. Schwierig sei es auch mit Schleef gewesen, »der ist ein Urvieh auf der Bühne. Ich habe noch nie einen Regisseur mit solcher Intensität arbeiten sehen! Der griff einen körperlich an, wenn er das Gefühl hatte, man würde ihn nicht verstehen...«
Strauchmann schminkte Schauspielgrößen wie Helene Weigel, Wolfgang Heinz, Ernst Busch, Ekkehard Schall, Gisela May, Hilmar Thate, Angelica Domröse, Jutta Hoffmann, Manfred Krug, Carmen-Maja Antoni, Corinna Harfouch... Die Harfouch sieht er noch als »ganz junges Ding, das bei seiner ersten Maskenprobe schrecklich aufgeregt war«, vor sich - Geschichten, er könnte Geschichten erzählen! Aber er behält sie für sich. Sein Beruf ist sehr intim: In der Maske fällt die Maske. Bevor sie neu ersteht - als Charakter. Niemand kommt den Darstellern so nahe wie der Maskenbildner. Strauchmanns Hand, die ständig tätschelt: Das Gefühl für köperliche Distanz bleibt ganz am Anfang auf der Strecke. Die Achtung vor der Integrität der Persönlichkeit muss bewahrt bleiben. Die Währung beim Roulette der Täuschung, das der Wahrheit dient, heißt Vertrauen. Schon deshalb, weil man keine Maske gegen den Darsteller machen könne - der müsse sich wohl fühlen, sich bewegen, singen können... Deshalb würden von jedem Gesicht zunächst Gipsabdrücke genommen, über die man das Material zöge. Jede Maske müsse dann anprobiert werden, »mal drückt es hier, mal drückt es da, wir müssen immer daran denken, für wen wir eigentlich arbeiten.«
Die Details seiner Kunst lassen sich am besten in den Werkstätten erklären. An der Staatsoper hat die Maske zwei - eine für Frauen, eine für Männer. Hier stehen sie, all die Gipsabdrücke, die Holzköpfe mit oder ohne Perücken. Hier arbeiten Strauchmanns Leute. Da es Vormittag ist, nur die Frühschicht; die große Besetzung wird logischerweise erst am Abend aufgeboten. »Ach was«, winkt er ab, »große Besetzung!« Vor zehn Jahren bestand sein Team noch aus 26 Leuten. Jetzt sei es auf 18 zusammengestrichen. Er nimmt es als Indiz dafür, dass »Qualitätsarbeit nicht mehr gefragt« ist. »Eine Grenze«, stöhnt er, »wir sind am Ende!« Das mit der Grenze stimmt wahrscheinlich, das mit dem Ende ist übertrieben. Wo Strauchmann ist, ist das Ende weit. Wer Strauchmann hat, hat die Garantie einer herausragenden Leistung. Wenn er Abstriche machen müsste, würde er sich verabschieden. Wie gesagt, er wird 65, er muss nicht mehr arbeiten. »Sehen Sie«, holt er etwas aus, »das ist wie mit meinem Bekanntenkreis. Der ist riesig, doch mit dem Duzen tue ich mich schrecklich schwer, und Freunde gibt es nur wenige. Auch Freundschaften kann ich beenden, wenn sie beiden Seiten nichts mehr bringen.« Wahrscheinlich muss man es so bündeln: Gisela May hat er seit Jahrzehnten (und sie ihm) die Freundschaft gehalten, der Staatsoper hält er sie auch noch - sie haben einander noch etwas zu geben.
Leistung behaupten an der Grenze: Er hat seinen Leuten den Rücken gestärkt, sie zu einem Team zusammengeschweißt: »Mir fehlte der Ensemblegeist.« Das Ensemble besteht aus Jungen und Alten, Ostlern und Westlern, »die einander etwas zu erzählen haben - der Fünfzigjährige hat Erfahrung, die Jugend bringt Anregungen«. Dass Berlin sparen müsse, sei klar. Nicht nur die Kita, auch die Kunst müsse ihr Schärflein beitragen. Angst, dass die Staatsoper unter den Linden geschlossen werde, hat er nicht. »Sie ist 260 Jahre alt, und es wird sie weiter geben.« Wer kenne denn heute noch die Namen der Berliner Kultursenatoren, die hier mit ihren Plänen aufkreuzten? Geschenkt! Was ihn wirklich irritiert: Wieso Berlin Daniel Barenboim mal haben möchte und mal nicht. Berlin scheint einfach nicht zu begreifen, dass es mit Daniel Barenboim einen Musiker von Weltrang besitzt!
Dann kommt er noch einmal aufs Sparen zurück. Und noch einmal auf dieWeigel: »Im Grunde«, sagt er, »hat sie das BE damals kapitalistisch geführt: ökonomisch arbeiten, künstlerisch herausragen.« Es sei also gar nichts Neues für ihn, Inszenierungen sparsam auszustatten. Es gebe Aufführungen, erklärt er, die alle für teuer hielten, den »Columbus« beispielsweise. Dabei seien die Materialien ganz einfach, »man braucht nicht immer Handschuhleder«. Es könne aber auch passieren, »dass eine Aufführung richtig teuer wird«. Bei »Fidelio« komme der gesamte Gefangenenchor - der Haare beraubt - mit Glatzen nach oben, als Zeichen der Entwürdigung. Glatzen zu machen sei aufwändig, schwierig und nicht gerade billig. »Künstlerisch macht es aber Sinn. Keinen Sinn macht es dagegen, wenn Regisseure zu uns kommen, die nicht wissen, mit welcher Aussage sie etwas inszenieren wollen.«
Die Frühschicht knüpft heute Perücken. Er lobt, legt sanft die Hand auf Schultern. Wenn er etwas verlangt, sagt er »bitte«. Zweimal bitten muss er keinen. Er sei streng, hart in der Sache, aber nachtragend sei er nicht, erzählt eine junge Kollegin. Was nicht heiße, relativiert er, er würde nichts übelnehmen. Er hasse Unaufrichtigkeit, die sei am Theater sehr verbreitet! Und in seinem Fach gefährlich. Gelegenheit für eine kleine Lektion, die nicht nur an mich gerichtet ist: »Manche Stars«, hebt er an zu erzählen, »wollen keinen Maskenbildner. Da sie nicht berühmt geboren wurden, haben sie einen Kreis von Leuten, die es gut mit ihnen meinen, ihnen Ratschläge erteilen - man kann sich ja schrecklich zurechtmachen! Wenn sie ein Konzert geben, können wir das nicht verhindern. Treten sie in der Vorstellung auf, müssen wir uns aber fragen: Können sie so rausgehen? Und den Mut haben, einzugreifen.«
Neben »totgeschminkten« Gesichtern erträgt Strauchmann keine »aufgeplusterten und keine gelackten Köpfe«. Seine Perücken, die Perücken der Staatsoper Unter den Linden, seien wegen ihrer Natürlichkeit (»die müssen fliegen, du darfst gar nicht merken, dass du eine Perücke aufhast«) ein Geheimtipp unter den Stars: Sie bäten darum, »ihre« Perücke auch an anderen Häusern tragen zu dürfen. Strauchmann: »Darauf sind wir stolz. Auch wenn wir, das versteht sich von selbst, nicht jeden Wunsch erfüllen können.«

Womöglich berichtet er solche Dinge, wenn sich einmal im Jahr, am Geburtstag einer früheren Ankleiderin des BE, die alte Garde wieder trifft. Viele kämen - der Thate, die Domröse, »nicht um über alte Zeiten zu schwatzen, sondern darüber, was wir Neues machen.« Maskenball? Natürlich: Leben! Nur dass Strauchmann besser als andere weiß: Die perfekte Maske ist ehrlich.