nd-aktuell.de / 05.04.2003 / Kultur

»... dass die Welt ein Geheimnis birgt«

Gershom Scholem: Zwei Texte erstmals deutsch

Roland Links
Es gibt ein Geheimnis in der Welt« - das titelgebende Zitat charakterisiert dieses Buch. Es spiegelt das Lebenswerk des Wissenschaftlers Gershom Scholem, das schon in frühen Jahren den Geheimnissen der jüdischen Mystik, speziell denen der Kabbala, gewidmet war. Beide hier vereinten Texte - ein Vortrag (Einige Bemerkungen zur jüdischen Theologie in dieser Zeit) und ein Gespräch - sind schon vor Jahrzehnten veröffentlicht worden - doch nicht in deutsch, und das hat seine Gründe. Auch für diese späte Publikation gilt, was Scholem 1957 schrieb, als in Zürich nach der dritten englischen Auflage endlich auch eine deutsche Fassung seines grundlegenden Buches »Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen« erscheinen sollte: »Zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk ist in den Jahrzehnten der Katastrophe und Vernichtung ein Abgrund entstanden, über dessen im vollen Sinn des Wortes blutigen Ernst sich hinwegtäuschen zu wollen vergeblich wäre. Wenn dieses Buch erst jetzt auf Deutsch erscheint, so hängt das mit diesem Stand der Dinge zusammen.«
Von Geheimnissen umgeben war Gershom Scholems Leben und Werk nicht, aber umstritten nach vielen Protesten und Polemiken, nach manchen Widersprüchen und Eigenheiten. So hatte er sich erst in seinen letzten Lebensjahren auch als Schriftsteller und Dichter zu erkennen gegeben. Als 1997 zu seinem hundertsten Geburtstag in Potsdam ein Symposion zu seinem Gedenken stattfand, gehörte zu dessen Schlussfolgerungen außer dem Hinweis auf eine »Fülle unveröffentlichter Essays und Aufzeichnungen« im Nachlass auch das Eingeständnis: »Den Sprachtheoretiker und auch den Literaturkritiker Gershom Scholem gilt es also, ebenso wie den heimlichen Verfasser von Gedichten, noch zu entdecken.«
Mit einem Gedicht gegen den Krieg in einer von ihm herausgegebenen Untergrundzeitschrift haben Gershom Scholems lebenslange Konfrontationen begonnen. Das war im Ersten Weltkrieg, 1915; er war siebzehn Jahre alt. Die Zeitschrift »Die blau-weiße Brille« richtete sich an eine aktivistische Jugend und warb für einen radikalen Zionismus. Im gleichen Jahr lernte er Walter Benjamin kennen, dem er seinen Versuch einer Neuübersetzung des Hohen Liedes zuschickte. Auf Zerwürfnisse mit der Schule, mit dem Elternhaus und der Musterungsbehörde reagierte er mit einer derart konsequenten Radikalität, dass ihm der Freibrief einer »Dementia precox« ausgestellt wurde. In der Schweiz, wohin er dann ausreisen durfte, verbrachte er anderthalb Jahre zusammen mit Walter Benjamin und fand dort zur Kabbala, zur jüdischen Mystik, die seitdem sein ganzes geistiges Leben bestimmte und die Dichtung für Jahrzehnte verdrängte.
Wie seinen erst kurz vor seinem Tod veröffentlichten Jugenderinnerungen zu entnehmen ist, widersetzte er sich damals schon der Wunschvorstellung einer deutsch-jüdischen Identität. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust protestierte er in einem Offenen Brief und in einer Rede vor dem Jüdischen Weltkongress in Brüssel so heftig dagegen, dass er bei vielen Jüngeren, unter ihnen Jürgen Habermas, einen »Schock auslöste«.
Was im Klappentext informativ festgestellt wird, muss in der Rezension hervorgehoben werden: Beide in diesem schmalen Band vereinigten Texte von Gershom Scholem entstanden 1973/74, also kurz vor der Publikation seiner autobiografischen Bücher »Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft« (1975) und »Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen« (1977). In beiden Texten »äußert sich Scholem ungewöhnlich direkt und persönlich zu wichtigen Fragen und Themen, die sein Leben und Werk prägten«. Diese für Scholems wissenschaftliche Texte ungewöhnliche und für seine Leser ungewohnte Schreibweise ist in dem schon erwähnten Symposion in Potsdam näher bestimmt worden als »Changieren zwischen literarischen und diskursiven Schreibweisen«, das aus der veränderten, weitgehend rückblickenden Sichtweise resultiert.
Auffallend häufig betont der Autor sein Suchen nach Antworten; viele seiner Feststellungen sind als Fragen an sich selbst formuliert, mehr als einmal stellt er sich selbst in Frage. Das signalisiert weder Unsicherheit noch Zweifel, sondern eine bewusst historische Sicht, in die die eigene Entwicklung und die des Judentums einbezogen werden. Das wird auch klar ausgesprochen: »Ich denke, das Judentum wird eine Krise durchmachen, in der es eine Form ablegen und eine andere annehmen wird. Bestimmte historische Formen müssen nicht ewig bestehen.« Demgegenüber bekennt Scholem sich eindeutig zu Grundprinzipien seiner geistigen Existenz: »Atheisten verstehe ich nicht. Ich bin nicht fähig, sie zu verstehen, ich war es weder als junger Mensch noch bin ich es im Alter.« Ausgerechnet von Dostojewskis Warnung »Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt« beendet Scholem das Gespräch mit dem Satz, auf den sich auch der Titel dieses Buches bezieht: »Wenn das Gefühl, dass die Welt ein Geheimnis birgt, je aus der Menschheit entschwindet - ist alles zu Ende. Ich glaube aber nicht, dass es so weit mit uns kommen wird ...«


Gershom Scholem: Es gibt ein Geheimnis in der Welt. Tradition und Säkularisation. Ein Vortrag und ein Gespräch. Herausgegeben von Itta Shedletzky. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. 100 Seiten, gebunden, 19,90 EUR.