nd-aktuell.de / 15.05.1992 / Brandenburg / Seite 10

Von der Flüchtigkeit der Zeichen

Julia Ziegler gehört zu einer Generation jüngerer Künstler - 1989 schloß sie das Studium an der West-Berliner HdK ab -, die sich nicht damit begnügen, ihre Kunst neutral zum Ort zu hängen oder zu stellen. Ihr Konzept zielt vielmehr auf die Manipulation des Raumes und seiner Wahrnehmung ab. Der Raum ist nicht länger ein beliebiges Gefäß für darin Plaziertes, sondern wird zum Material des künstlerischen Ausdrucks selbst.

Bei Julia Ziegler ist der Zugriff direkt, sie macht sich den Raum zu eigen, indem sie ihn mit ihrem eigenen Schema konfrontiert, dieses zugleich aber aufgrund der vorgefundenen Gegebenheiten variiert. Es besteht aus einer Art „Zeichensprache“, deren Elemente teils an Buchstaben, teils an einfache Zeichen, teils an geometrisierte Figuren erinnern. Kreuze, nach einer Seite hin offene Drei- und Rechtecke sowie Gebilde, die Antennen oder Befehlen auf der Computertastatur ähneln, werden auf die Wand appliziert. Das kann sowohl im „Positiv-Verfahren“ (die Konturen des Zeichens werden umklebt und dann ausgemalt) oder im „Negativ-Verfahren“ (die Klebestreifen markieren die Form des Zeichens und werden nach Übermalung der gesamten Wand abgezogen) geschehen.

„Stella“ nennt die Künstlerin ihre Bearbeitung des sogenannten „Werkstatf'-Raumes der Galerie „Weißer Elefant“. Der Name soll ein Assoziationsfeld freisetzen. Die Silben „Stella“, „Stern“ im Lateinischen, sind zugleich Teil der Worte „interstellar“ oder „Konstellation“. Ordnung und Unordnung treffen in einer Komposition der „Zeichen“ zusammen. Sie umfaßt drei Seiten des fast quadratischen Raumes, eine mußte wegen der großen Fensterfront, die Decke wegen einer installierten Beleuchtungsanlage fast ausgespart bleiben. Praktische

Grenzen für ein Ideal, das den Raum in einer kuppelartigen Illusion aufheben will.

Gemäß der Bewegung des lesenden Auges von links nach rechts ist auch die Wahrnehmung dieses tätowierten Raumes organisiert. Gruppen minimalisierter Formen, virtueller Zeichen schwärmen aus und werden Teil neuer Formationen, indem sie sich ineinander drehen, verqueren und auf andere Figuren treffen. Parallel zu den Stellen, an denen solche Verdichtungen stattfinden, hebt zugleich eine neue Bewegung, eine neue Komposition an. So schälen sich aus der Gleichförmigkeit, Gleichzeitigkeit des Wahrgenommenen Linien heraus, die der Komposition eine vage Struktur geben.

Ziegler reflektiert den Status der visuellen und sprachlichen Zeichen in der modernen Kommunikationsgesellschaft, ihr „floating“, ihre Flüchtigkeit, ihre Beliebigkeit. Das nur kurze Aufblitzen von Sinn in der Zerstreuungsbewegung unendlichen Fließens. Indem ihr „Alphabet“ der Zeichen und Formen letztlich unentzifferbar bleiben muß, abstrahiert sie zugleich davon, um über diesen Umweg auf den Kern jenes Status' zu weisen: Die Ordnung der Zeichen ist die Ordnung des Kaleidoskops.

In der Politik ist gern von „bleibenden Werten“, in der Kunst von „bleibenden Werken“ die Rede. Zieglers Arbeit aber verhält sich zur Schwindsucht des von ihr Thematisierten mimetisch: Mit dem Ende der Ausstellung, wenn Raum und Wand neuen Nutzungen zugeführt werden, wird sie verschwinden. Sie wird übermalt werden, und Julia Ziegler wird sich neuen Räumen und Konstellationen zuwenden.