In der Bundesrepublik Deutschland haben täglich durchschnittlich 219 000 Menschen Geburtstag. Kein Anlaß für die Medien, 219 000mal Glückwünsche-auszusprechen oder sich zur Person zu äußern. Heute wird Erich Honecker 80. Er gehört offensichtlich, wenn auch unter anderen Vorzeichen als noch vor drei Jahren, nicht zu den 219 000 Namenlosen. Er war und ist Spektakulum mit einer einmaligen Metamorphose.
Schließen wir nur für ein paar Sekunden die Augen und stellen uns vor, es hätte den Herbst 1989 und den 3. Oktober 1990 nicht gegeben. Die Zeitung „Neues Deutschland“ würde dann vielleicht heute, wie zum 75. Geburtstag Honeckers, auf Seite 1 in gro-ßen Lettern „Herzliche Wünsche für weiteres Wirken zum Wohl des Volkes und zur Sicherung des Friedens“ aufmachen. Auf den folgenden Seiten empfinge dann der Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzende Grüße von Volkes Abgesandten, wären die Glückwünschtelegramme hochdotierter Politiker aus Ost und West veröffentlicht. Dem staunenden Publikum würde verkündet, daß sämtliche Parteitagsbeschlüsse er-
füllt seien. (Dies glauben zu machen, leistete das „Neue Deutschland“ bekanntlich einen nicht unerheblichen, unrühmlichen Anteil.) Jene Prachtausgaben vor Augen, verzichtet die Zeitung heute - nicht aus Mangel, sondern wegen Nachdenkens über unsere Geschichte auf Glückwunschtelegramme zum 80.
Verzichten, allerdings aus anderen Gründen, tun heute auch eine Menge Politiker der Neu-Bundesrepublik, die bereits in der Alt-Bundesrepublik Rang und Namen hatten. Als der Staatsratsvorsitzende Honecker 75 wurde, bereitete er sich auf seinen Besuch der Bundesrepublik Deutschland vor. Infas vermeldete, daß 75 Prozent der Bundesrepublikaner dem bevorstehenden Besuch Honeckers positiv gegenüberstehen. Heute begrüßen sie aller Wahrscheinlichkeit nach genauso ehrlichen Herzens, daß Obengenannter dank größter Anstrengungen der Bundesregierung in Moabit sitzt.
Zum 75. Geburtstag Erich Honeckers gab Helmut Kohl eine Erklärung vor der Presse ab: Die „Politik von Dialog und Zusammenarbeit auf allen Ebenen gehört zu ei-
ner stetigen Deutschlandpolitik auf der Basis des Grundlagenvertrages. Wir wollen, daß dieser Besuch zu einem Erfolg wird.“ Und in seinem Telegramm an Honecker freute sich der spätere Kanzler der deutschen Einheit gar ehrlich auf den Besuch und die persönlichen Gespräche, die Gelegenheit sein sollten, „zum Wohle der Menschen“ zu handeln.
Macht es Sinn, heute daran zu erinnern? Ist es angebracht, in den Alben zu blättern und sich Fotos anzuschauen, auf denen ein Volk an seiner Führung vorbeidefiliert, Funktionäre die Geschenke der „führenden Klasse“ überreichen oder wohlbeleibte Westpolitiker einen freundschaftlichen Händedruck, ein nettes Lächeln mit dem künftigen Untersuchungshäftling Honecker tauschen? Verfallen wir der Feme, wenn wir daran erinnern, daß Honecker schon einmal in Deutschland im Gefängnis saß, und darüber nachdenken, wer sich heute das Recht nimmt, den Mann zur Verhinderung wirklicher Vergangenheitsaufarbeitung - vorzuführen wie einen exotischen Hund?
Am Ende seines achtzigsten Lebensjahres steht Honecker vor dem
Trümmerhaufen seiner Fehler, seiner Unzulänglichkeiten und vor der mitverschuldeten Pervertierung einer Idee. Seine ganz persönliche Schuld ist nicht in Paragraphen abwägbar. Und sie ist groß. Und sie verleitet dazu, unsere Schuld kleiner zu sehen, unseren Anteil am Zusammenbruch und unser Entsetzen darüber zu vergessen. Natürlich ist Honecker ein Stück deutsch-deutsche Geschichte. Wer Augen zum Sehen und seinen Kopf zum Denken benutzt, bedarf keiner großen Beweisführung mehr zur Scheinheiligkeit bundesdeutscher Politpromis. Daran sollte erinnert werden - und wenn's am Geburtstag ist. Ändern wird sich allerdings nichts, es sei denn, man schafft Politiker ab.
Aber vielleicht ändert sich etwas an unserer Sicht auf Vergangenes, wenn wir über das Wie und Warum nachdenken. Wenn wir den Versuch einer Erklärung wagen, warum ein Mann, aus den Folterhöllen der Nazis entkommen und im Kopf die Idee von einer besseren Gesellschaft, einen unaufhaltsamen Abstieg zum diktatorischen Alleinunterhalter vollzog. Und warum wir es ihm so leicht gemacht haben.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/372607.wenn-es-die-wende-nicht-gegeben-haette.html