nd-aktuell.de / 20.06.2003 / Politik
Schachmatt für Schachschule?
In Sachsen-Anhalt ist nicht nur die Ströbecker Schule von Schließung akut bedroht
Uwe Kraus, Halberstadt
Ein Trauerflor weht am Ortseingangsschild mit der Aufschrift »Schachdorf Ströbeck« im Sommerwind. Doch im Dorf das pure Gegenteil: »Wir lassen unsere Tradition nicht zu Grabe tragen«, sagt Bürgermeister Rudi Krosch fest. So schnell wollen sich die Ströbecker nicht geschlagen geben. Kürzlich hat sich eine Initiativgruppe »Kein Schach Matt für unsere Schule« zum Erhalt der Sekundarschule »Dr. Emanuel Lasker« gegründet. Susanne Heizmann, die vor Jahren mit ihrer Familie von Hildesheim hierher zog, gehört dazu, die fast 90-jährige Elisabeth Bethke, Ex-Pfarrerin und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, Erika Baum, die ehemalige Bürgermeisterin des Nachbarortes und Feuerwehrleute wie Maik Ledderbohm. Der hatte unter dem symbolträchtigen Titel »Bis zum letzten Tropfen« eine Blutspende organisiert. Lehrer sind allerdings nicht darunter - aus dienstrechtlichen Gründen, heißt es.
Vom königlichen Spiel kündet alles im Ort: das Gasthaus »Zum Schachspiel«, das Schachmuseum, der Schachplatz mit seinem überdimensionalen Brett, auf dem seit Jahrhunderten Lebendschach gespielt wird. Selbst der Bürgermeister regiert mit dem Mandat des Schachvereins. Seit 1823 lehrt man an der Dorfschule nachweislich das Schachspielen. So lange jedenfalls werden die besten Schüler schon jährlich mit einem Satz Figuren und Brettern geehrt. Erst kürzlich tauchte in einem Antiquariat ein seltenes amerikanisches Kinderbuch aus dem Jahre 1938 auf, das die Schachgeschichte von Ströbeck beschreibt.
Nun steht die Schachschule, die Sekundarschule, die nach dem deutschen Schachweltmeister Emanuel Lasker benannt ist, wenige Züge vor einem möglichen Matt. Nicht wegen mangelnder Spielstärke sondern wegen der Änderung des Reglements.
Ab 2004 müssen alle Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt mindestens zweizügig sein, in jeder Klasse 20 Schüler lernen. Ein Antrag der PDS-Landtagsfraktion, diesen Erlass auszusetzen, fand vor einer Woche keine Mehrheit. Insbesondere greifen die von den staatlichen Schulämtern zu treffenden Entscheidungen in die beschlossenen Schulentwicklungspläne ein, ohne dass eine demokratische Beratung der Veränderungen in den Kreistagen und Stadträten möglich sei, hieß es im Antrag. Man befürchte zum Teil dramatische Auswirkungen auf die Ausgewogenheit der Schulnetze.
Für die Ströbecker Schachschule sind für das kommende Schuljahr aus dem Schuleinzugsbereich nur 13 Schüler angemeldet. Deshalb versagte das Schulamt Halberstadt die Genehmigung zur Bildung einer 5. Klasse. Die Verwaltungsgemeinschaft Harzvorland-Huy wirbt für die Idee, die Sekundarschulen Derenburg im benachbarten Kreis Wernigerode und des Schachdorfes zusammenzulegen, denn beide bekommen schon zum im August 2003 beginnenden Schuljahr nicht die gesetzlich geforderte Kinderzahl von 20 zusammen. Selbst eine Rochade haben die Ströbecker bereits bedacht: Verwaltungsstandort nach Derenburg, Ströbeck bleibt dafür Schulstandort. Doch Bürgermeister Rudi Krosch kritisiert: »Da wurde wieder eine Schulreform im Land vor der Verwaltungsreform durchgezogen, die die komplette Schulentwicklungsplanung über den Haufen schmeißt.« Doch nach Beratung der beiden Landkreise Wernigerode und Halberstadt kam man überein, dass es nicht sinnvoll sei, jetzt eine Klasse mit 21 Schülern zu bilden, die nur ein Schuljahr Bestand hätte. Danach seien schließlich 40 Schüler, verteilt auf zwei Klassen, gefordert. Nun werden die Fünftklässler je nach Wohnort in Wernigerode, Dardesheim und Halberstadt lernen.
Besorgte Anfrage aus Smolensk
Die Situation schwäche die Ströbecker Position bei der Schulentwicklungsplanung für die Zukunft, sei aber, so Vize-Landrat Hans-Georg Sturm am Mittwoch auf der Sitzung des Halberstädter Kreistages, noch nicht das Matt für die Schachschule. »Keine Klassenbildung bedeutet nicht Schulschließung.« Eine Entscheidung über die Schulstandorte des Landkreises Halberstadt werde erst im Dezember mit der zu beschließenden Schulentwicklungsplanung bis 2009 fallen. Derzeit erziele nur eine einzige Sekundarschule im Landkreis die geforderte Mindestschülerzahl ab 2004.
Langfristig gehen Schulplaner davon aus, das sich die Zahl der zwölf Sekundarschulen im Kreis Halberstadt halbieren wird. Denn der dramatische Schülerverlust kommt nicht von ungefähr. Geschuldet nicht allein dem Geburtenknick aus Wendezeiten, sondern ebenso dem neuen Schulgesetz des Landes. Zu Schuljahresbeginn wechseln erstmals wieder Kinder nach der 4. Klasse an ein Gymnasium. Dazu kommen jene, die dies durch das alte Schulgesetz in den Vorjahren ab Klasse 5 nicht konnten. Zudem will nicht wie bisher jeder dritte Grundschüler am Gymnasium seinen Schulweg fortsetzen, sondern in diesem Jahr durchschnittlich 42, an manchen Schulen sogar 70 Prozent der Schüler. Sie hoffen dadurch auf bessere Berufschancen in einer Region, wo die Arbeitslosenquote um die 20 Prozent pendelt. »In der Bildungspolitik herrscht derzeit Chaos«, meint die dreifache Mutter Susanne Heizmann von der Ströbecker Initiative.
»Stirbt der Sekundarschulstandort, stirbt wenig später der Kulturstandort Ströbeck«, sagt Rudi Krosch. »Als Botschafter Sachsen-Anhalts oder als schmückendes Beiwerk bei Empfängen sind unsere Schachkinder mit ihren Kostümen sehr beliebt. Doch wenn es dieser weltweit einmaligen Tradition an den Kragen gehen soll, da lässt sich kein Politiker sehen.« Dafür sorgen sich Schachfreunde und Kommunalpolitiker im Ausland um die Situation im sachsen-anhaltischen Ströbeck. Von Smolensk aus setzten sich Internationale Großmeister bei Sachsen-Anhalts Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz für das Fortbestehen der Schule ein. In Ströbeck nahmen die Schachenthusiasten den Unterstützerbrief mit Freude auf. Die Besorgnis im Ausland sollte den »Erbsenzählern in Magdeburg« die Augen öffnen, worum es sich drehe, hofft Rudi Krosch: »Nicht allein um Schach als Unterrichtsfach, sondern um ein Stück Kulturgeschichte, das weit über die Landesgrenzen hinausstrahlt.«
Niederländer, Briten und Tschechen erkundigten sich, was da nah bei Halberstadt los sei. Schließlich zählt Ströbeck als einzige deutsche Gemeinde zu den zwölf Kulturdörfern Europas. In den Niederlanden begrüßte die Königin das Schachensemble aus dem Europadorf, zum jüngsten Jahrestreffen in Aldeburgh (Großbritannien) kamen Abgesandte des Königshauses. 2006 ist Ströbeck Gastgeber. »Soll ich dann dazu die Politiker einladen, die unser Kulturgut plattgemacht haben?« fragt sich der Bürgermeister.
Keine ruhige Partie am Domplatz
Die Bürger verstehen die (Schul-)Welt nicht mehr. Schon im 16. Jahrhundert wird auf die Schachtradition des Ortes hingewiesen, gekrönte Häupter reisten in das Dorf weitab der großen Residenzstädte. Die Privilegien von Ströbeck zeugten von der Wertschätzung der damaligen Herrscher. All den Stürmen der Zeit habe die Schulschachtradition getrotzt. Die Ströbecker rücken Landes- und Landkreispolitikern mit immer neuen Vorschlägen auf die Bude. Warum sollte sich die Schachschule nicht für einen Modellversuch eignen? Die Sozialpsychologin Marion Kauke hatte bis 1989 im Auftrag der Humboldt Universität in Berlin zum Zusammenhang von Schachunterricht und den Leistungen in den naturwissenschaftlichen Fächern geforscht und 1991 die Aufsehen erregenden Ergebnisse publiziert. Schließlich verleite Schachspielen in der Schule nicht nur zum Stillsitzen und Nachdenken, sondern fördere auch das logische Denken. Der Antrag für einen »Schulversuch zum Einfluss des obligatorischen Schachunterrichts auf mathematische und naturwissenschaftliche Fähigkeiten der Schüler unter Einbeziehung der Schulklasse 5 und 6« wurde abgelehnt. Offizielle Begründung, so Bürgermeister Krosch: Schach gehöre nicht zum von der Kultusministerkonferenz festgelegten Fächerkanon. Da wundert es ihn schon, dass man am Sportgymnasium Dresden sogar eine Abiturprüfung im Fach Schach ablegen kann.
Ihrem Protest verliehen am Mittwoch Schüler und Bürger des Schachdorfes bei der Kreistagssitzung Ausdruck. Das Schachtanz- und das Lebendschach-Ensemble waren in ihren Kostümen ebenso angereist wie ehemalige Schachlehrer der Schule. Selbst Großeltern streckten demonstrativ ihre vor Jahrzehnten errungenen Ehrenschachbretter den Kommunalpolitikern entgegen. Doch von denen denkt keiner daran, die Schule dicht zu machen, wie Helmut König (PDS) klarstellte. »Das entscheiden nicht wir hier.« Der CDU-Abgeordnete Udo Odenbach, selbst Ströbecker, meinte in Richtung Landesregierung: »Ich dachte immer, ein Kultusministerium sei dazu da, Kultur zu erhalten und nicht wie in unserem Dorf sie abzuschaffen.« Andreas Henke (PDS) verwies auf die Bedeutung der Schachschule im Hinblick auf die PISA-Studie. Sein Fraktionskollege Gerd Schuster schlug vor, auch Privatisierungsideen für die Schule zu prüfen. Der parteilose Landrat Henning Rühe, der am vergangenen Wochenende erneut das Schachdorf besuchte, meinte: »Wir sind nun mal keine Monarchie, wo der Landrat entscheidet: Die Schule bleibt.« Immerhin beauftragten ihn die Kreistagsabgeordneten einstimmig, gegenüber der CDU/FDP-Landesregierung den Willen des Landkreises zum Erhalt der Schachschule zu bekunden.
Der lokale PDS-Landtagsabgeordnete Detlef Eckert kritisiert, dass nach seiner Auffassung »nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, um Wege zur Rettung der Schule zu finden«. Er gehörte zu den knapp 180 Teilnehmern eines Treffens der Initiativgruppe in Ströbeck und will mit seinem Engagement den Dialog der Beteiligten fördern. »Zur Zeit bietet das Gesetz durchaus die Möglichkeit, dass der Minister eine Ausnahmegenehmigung erteilt«, meint Eckert, scheut sich aber, irgend jemandem den Schwarzen Peter zuzuschieben. Es bedürfe einer gemeinsamen Lösungssuche aller Beteiligten, der Nordharzlandkreise und des Kultusministeriums. »Ich kann die demografische Entwicklung in der Verwaltungsgemeinschaft Ströbeck nicht beeinflussen, aber helfen, dass Türen nicht zugeschlagen werden«, so Eckert. Darum habe er das Gespräch mit dem Kultusminister gesucht und für den 3. Juli einen Besuch der Schachfreunde bei der letzten Sitzung des Landtages vor der Sommerpause angeregt. Eins dürfte sicher sein: Nicht nur weil Landesrechnungshof-Chef Ralf Seibicke und Finanzminister Karl-Heinz Paqué erfahrene Schachsportler sind - eine ruhige Partie wird es am Magdeburger Domplatz nicht.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/37267.schachmatt-fuer-schachschule.html