indes die Diskussion um Führungsstil und Führungsstrukturen vorerst zweitrangig erscheinen. Nun waren sie alle die Protagonisten eines Führungswechsels wie auch Ulbricht selber - bemüht, den Zusammenbruch zu verhindern. Das gelang nur mit sowjetischen Panzern und Ausnahmezustand. Wie viele zeitgenössische Beobachter und spätere Analytiker feststellten, operierten die sowjetischen Truppen aber recht vorsichtig, was auf Divergenzen zwischen Moskau und Karlshorst deuten könnte. Der 17 Juni hat jedenfalls auch die Moskauer Führung verunsichert. Sie steckte noch immer in internen Machtkämpfen.
Relativ weitverbreitet ist die Auffassung, Geheimdienstchef Berija sei noch Mitte Juni 1953 für ein neutrales bürgerliches Gesamtdeutschland eingetreten, während Außenminister Molotow dagegen für den Erhalt einer sozialistischen DDR plädierte. Einiges spricht dafür. In den Erinnerungen Molotows ist aber auch zu lesen, daß Berija den Beschluß der Sowjetführung, den Aufstand in Ostberlin „rücksichtslos niederzuschlagen“ und „hart durchzugreifen“, mitgetragen habe: „Als uns die Information über die Ereignisse in der DDR erreichte, war Berija unter den ersten, die sagten: , Unbedingt! Rücksichtslos! Unverzüglich!'... Möglicherweise war Berija vorher (vor seiner Verhaftung, E. S.) noch in Berlin zur Niederschlagung des Aufstandes - in solchen Dingen ist er prächtig.“ Allerdings sind die späten Erinnerungen Molotows mit besonderer Vorsicht zu genießen. Andererseits ist es schon merkwürdig, daß gerade Molotow, der persönliche Widersacher und entschiedene j Ankläger f Berijas, diesem zugute.hält, die sowjetischen Positionenan Deutschiland am 17 Juni hartnäckig verteidigt zu haben.
Die umstrittene Rolle Beriias in der Deutschlandfrage ist keineswegs geklärt. Die Molotow-Erinnerungen suggerieren, der Geheimdienstchef sei ein prinzipienloser Karrierist gewesen, der deutschandpolitische Erwägungen nur mit Blick auf Machtgewinn im Kreml anstellte. Das zu prüfen ist bislang nicht möglich. Richtiggestellt werden muß aber: Die nach der vornehmlich aus innenpolitischen Gründen erfolgten Ausschaltung Berijas Ende Juni 1953 allein dem Geheimdienstchef zugeschriebene Absicht, die DDR fallenzulassen bzw den Aufbau des Sozialismus in der DDR rückgängig zu machen, entsprach derselben Option, die vordem einer ganzen Reihe von Angeboten der Sowjetregierung an die Westmächte zugrunde gelegen hatte. Die sogenannte Berija-Linie war eine der Stalin-Linien. Und auch die Molotow-Memoiren bestätigen, daß die Deutschlandpolitik der KPdSU-Füh-
rung noch längst nicht entschieden war, als der Befehl zum Einsatz sowjetischer Panzer erging.
Doch zurück nach Berlin: Herrnstadt und Zaisser fühlten sich von den Arbeiterprotesten in ihrer Kritik am Führungsstil der SED bestätigt. In einer speziell gebildeten Kommission des Politbüros,.der auch Walter Ulbricht, Hans Jenchjetzky und, jQttp Grotewohl angehörten, plädierten sie für die Schaffung eines neuen Führungsgremiums, das „Walter bändigen“ sollte, ein sogenanntes „großes Sekretariat“ aus Politbüromitgliedern. Kurzfristig wurde für den 21. Juni ein ZK-Plenum einberufen.
Das Protokoll der 14. Tagung (es erscheint demnächst beim Akademie-Verlag) dokumentiert tiefe Erschütterung, Rat- und Orientierungslosigkeit, auch Scham über Funktionärsarroganz. Die These von der „faschistischen Provokation“, meinten einige ZK-Mitglieder, sollte nicht überstrapaziert werden und wirkliche Fehler bemänteln. Angezweifelt wurde sie jedoch nicht. Auch die Ulbricht-Kritiker trennten sich nicht vom stalinistischen Verständnis der Klasse-Partei-Beziehung, verlangten gar von den Arbeitern, um der Parteiherrschaft willen (als der eigentlichen Voraussetzung für Sozialismus) Kritiker des Regimes als-Provokateure zu „entlarven“. Klar, daß dann auch bald nach
Hauptverantwortlichen in den eigenen Reihen gefragt wurde.
Unerwartet für Otto Grotewohl fiel in der letzten Juniwoche während einer Besprechung mit Semjonow der erste, noch unklare Schatten auf Staatssicherheitsminister Zaisser. „Z. ist pleite“, notierte Grotewohl und gab das Signal ,&n Herjnstadt,,weiter.. Zum 60. Geburtstag Walter Ulbrichtsj am 30. Juni, .kam aus Moskau ein zwar knapper, aber einen der „hervorragendsten Organisatoren und Führer“ würdigender „brüderlicher Gruß“ Vier Tage zuvor, am 26. Juni 1953, war Berija verhaftet worden.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/425031.von-dr-elke-scherstjanoi.html