nd-aktuell.de / 13.10.2003 / Brandenburg

Schnäppchenfang im Amtsgericht

Fred Waske vom Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg bietet Zwangsversteigerungen im Service-Paket

Niklas Alt
Stille im Saal 144. Nur die harten Holzbänke, auf denen sich die Anwesenden drängen, stöhnen unter dem Gewicht. Ein Pärchen steht auf und tritt vorsichtig an die Kanzel. Hinter dem Pult thront Fred Waske. Erhaben nimmt er Ausweise entgegen, die Frau zieht ein Bündel Geldscheine. Zügig und aufmerksam lässt Waske die Fünfhunderter durch seine Finger gleiten. Durch die runde Brille noch ein prüfender Blick und schon verkündet er mit lauter Stimme: »Zehn Prozent Sicherheitsleistung sind vorhanden. Herr und Frau Häse je zu einhalb bieten 120000 Euro.« Zufrieden schaut Waske in die Runde. »Sie sehen, meine Damen und Herren, ich nehme Gebote entgegen. Sie müssen also nicht bis zum Ende der Bietzeit warten.« Das versteht er unter Service - die Leute zum Bieten anregen.
Fred Waske ist Beamter, Rechtspfleger am Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg in Berlin. Zusammen mit drei Kollegen ist er zuständig für Zwangsversteigerungen. 800 waren es in den letzten zwölf Monaten. Kunden sind Gläubiger, meistens Banken, die einen Kredit gewährt haben und die Rückzahlungen nicht schnell genug fließen sehen. Auf der anderen Seite
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In einer Bürokratie dehnt sich die Arbeit so lange aus, bis sie die Zeit ausfüllt, die zur Verfügung steht.
Cyril Parkinson, englischer Historiker
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stehen Schuldner, denen ihre Eigentumswohnung, ihre Lagerhalle oder das Einfamilienhaus weggenommen werden sollen - oft das letzte was sie besitzen. »Unser Service besteht darin, Gläubiger und Schuldner zu informieren. Wir klären sie über ihre Rechte auf und vermitteln auch zwischen ihnen.« Doch Nutzen aus diesem Service zieht meist nur eine Bankgesellschaft.
In Saal 144 des Amtsgerichts wird die Wohnung in einem Reihenhaus im Berliner Vorort Lichtenrade versteigert. Drei Zimmer, Küche, Bad, Terrasse. Der Besitzer des Grundstücks hat sich 1994 bei der Dresdner Bank verschuldet - mit 2 Millionen Euro plus eine Million Euro Zinsen. Als die Beraterbank keine Rückzahlungen mehr bekam, beantragte sie 2001 die Zwangsversteigerung. Heute ist nicht der erste Termin, an dem die Wohnung zur Versteigerung steht. Aber beim vorherigen Termin wurde nicht genug Geld geboten. Denn der Zuschlag darf erst erteilt werden, wenn fünfzig Prozent des Verkehrswertes erlöst werden können. Dem obligatorischen Gutachten zufolge beträgt der Verkehrswert der Wohnung 270000 Euro. Heute aber, und das macht den Termin so attraktiv, sind die Wertgrenzen entfallen. Heute kann Waske die Wohnung für jeden Preis versteigern.
»Ich kann bald Schluss machen, oder höre ich noch Gebote?«, fragt Rechtspfleger Waske mit drängendem Kalkül. Die Interessenten müssen zum Bieten mindestens 30 Minuten Zeit haben, so steht es im Zwangsversteigerungsgesetz. Danach kann der Rechtspfleger jederzeit die Zwangsversteigerung beenden - es sei denn, es gibt noch Gebote. »In Spanien«, sagte mal eine von Waskes Kolleginnen, »zünden sie eine Kerze an.« Nur solange sie brennt, kann dort geboten werden. Ein vornehmes Pärchen am Fenster steigt ein. Er trägt einen langen grauen Mantel, seine Frau ein Kostüm mit Zebrastreifenmuster. Sie bieten 136000 Euro. In Reihe zwei hebt Herr Häse den Arm und erhöht auf 138000.
Die Zahlen von Zwangsversteigerungen stagnieren seit Mitte der Neunziger auf sehr hohem Niveau. Kreditinstitute stecken in der Krise, die Berliner Bankgesellschaft steht vor dem Bankrott. »Seit zehn Jahren beantragen die Banken Zwangsversteigerungen viel schneller«, sagt Rechtspfleger Waske, »aber wir sind natürlich kein Dienstleistungsgewerbe«. Nur dem Gesetzestext ist er Rechenschaft schuldig.
Auf dem Schreibtisch in seinem kleinen Büro im gleichen Flügel des Gerichtsgebäudes, wo sich auch Saal 144 befindet, stapeln sich die Akten, als wollten sie alle noch an diesem Tag bearbeitet werden. Hinzu kommen die unzähligen Anrufer: Gläubiger, die auf einen neuen Versteigerungstermin drängen, Schuldner, die einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens stellen. »Wir arbeiten per Gleitzeit«, sagt Fred Waske, aber meist komme er morgens um acht und verlasse das Gerichtsgebäude erst nach 17 Uhr. »Ein klassischer Bürokratentag«, lacht er und fährt sich durch die lichten hellblonden Haare. Die Papierflut, die Versteigerungen und die Termine mit Schuldnern nimmt er gelassen, verschränkt die Arme gemütlich vor seinem Bauch. Fred Waske mag seinen Job, den Umgang mit Publikum, auch mit skurrilen Gestalten. »Da war diese alte Frau mit heruntergekommenen Kleidern und kaputten Schuhen.« In Plastiktüten hatte sie das Geld gestopft, mit dem sie ein Haus ersteigerte. Der Spaß an der Arbeit kompensiert die Aktenwälzerei. Seit 20 Jahren.
»In einer Bürokratie« meinte einst der englische Historiker Cyril Parkinson, »dehnt sich die Arbeit so lange aus, bis sie die Zeit ausfüllt, die zur Verfügung steht.« Wenn am Berliner Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg alles glatt geht, dann verstreichen vom Antrag des Gläubigers bis zur Einstellung des Verfahrens zehn bis zwölf Monate. Mindestens. In den Regalen der Geschäftsstelle eine Etage tiefer, liegen die Akten aller laufenden Verfahren. Bei manchen stammt der Antrag zur Versteigerung von 1996.
Das ganze Verfahren beinhaltet fast ein Dutzend Schritte, vom Antrag bis zum Gutachten, von der Anhörung des Verkehrswertes bis zu seiner Festlegung und schließlich zum Versteigerungstermin, »der ja kein Überraschungstermin sein soll«, so Waske. Ist das Objekt versteigert, kann es erst zwei Wochen später bezogen werden - wegen bürokratischer Fristen. Schließlich muss der Rechtspfleger das Geld zwischen den Gläubigern, die Ansprüche anmelden, aufteilen. Da es oft nicht nur einen Gläubiger gibt, sondern meist mehrere Kreditinstitute, das Finanzamt, oder auch Privatpersonen Ansprüche anmelden, wird der Versteigerungserlös nach einem bestimmten Schlüssel verteilt. Der Gläubiger obersten Ranges bekommt die Ausstände zuerst gezahlt, bleibt dann noch etwas übrig, geht der Rest an den auf der Rangordnung folgenden Gläubiger. In der Regel darf sich der Gläubiger zuerst am Topf bedienen, der seine Ansprüche als erster angemeldet hat. Für Kreditgeber dritten oder vierten Ranges bleibt meist nichts von dem mageren Kuchen; fast nie sieht der Schuldner etwas von dem Geld, meistens bleiben noch Rückstände, die er bezahlen müsste - wenn er denn Geld hätte.
Der Rechtsweg wurde schon 1897 mit dem Zwangsversteigerungsgesetz geebnet. Damals leitete noch ein Richter das Verfahren. Seit 1969 aber sind die Zwangsmaßnahmen ganz auf den Berufsstand des Rechtspflegers übertragen. Aber Rechtspfleger sind keine Volljuristen. Damals hat Fred Waske seine Ausbildung an einer Berliner Fachhochschule gemacht. Bundesweit sind etwa 16000 Rechtspfleger an Gerichten beschäftigt. Etwa tausend von ihnen sind, wie Fred Waske, für Zwangsversteigerungen zuständig.
Mit den persönlichen Schicksalen der Schuldner hat er fast nie zu tun. Manchmal bei einer Besichtigung des Objektes. Und manchmal kooperieren sie mit der Bank, so dass es gar keine Versteigerung gibt. »Das ist uns natürlich am liebsten.« Denn dann kann er zurück in sein kleines Büro zu den hunderten Aktenordnern, die dort auf ihn warten.
Einen offenen Schlagabtausch liefern sich Herr und Frau Häse mit dem Paar in Mantel und Zebrakostüm. »Wir erhöhen auf 151500«, ruft Herr Häse. Schnell wiederholt Fred Waske das Gebot, wird von dem anderen Ehepaar unterbrochen: 152000. Wieder Ruhe. Eine bewährte Bieter-Taktik ist, nicht sofort zu erhöhen. Besser ist abzuwarten. »Ich höre keine weiteren Gebote«, stellt der Rechtspfleger fest und lässt seinen Blick über die Reihen schweifen. Er werde nun drei Mal das höchste Gebot verkünden, droht er. »152000 Euro zum Ersten.« Er wartet kurz. »152000 zum Zweiten«. Keine Reaktion im Publikum. Als Fred Waskes zum Finale ansetzt ruft Häse: »152500«. Er ist hartnäckig; und der Mann im grauen Mantel winkt ab. Fred Waske wiederholt die Prozedur. Jetzt hört er keinen Widerspruch mehr, jetzt verkündet er, an wen der Zuschlag geht. Stolz ballt Herr Häse die Faust. Fred Waske ist zufrieden, aber nicht glücklich. »Natürlich liegt der Preis weit unter den 270000 aus dem Gutachten. Aber was ist denn der reale Wert einer Wohnung? Doch der, der am Ende bezahlt wird.«
Abend: In seinem Wagen fährt Fred Waske von Kreuzberg durch halb Berlin nach Köpenick. Ins eigene Haus, wo seine Frau und die zwei Kinder warten. In Gedanken packt er schon die Tischtennisschläger in die Tasche und fährt zum wöchentlichen Treff mit den Amtskollegen von der Betriebssportgemeinschaft der Berliner Gerichte. Ausspannen, loslassen, vom Umgang mit Menschen, die er liebt; den verschiedenen Interessen, zwischen denen er abwägen muss. Und den Aktenbergen, die zu seinen liebsten Feinden
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Was ist denn der reale Wert einer Wohnung? Doch der, der am Ende bezahlt wird.
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wurden. Ob er manchmal Bauchschmerzen habe, wenn er Menschen das Dach über dem Kopf wegnehme? »Nein«, sagt er bestimmt. Denn wenn ein Gläubiger einen ausreichenden, formellen Vollstreckungstitel hat, also einen Gerichtsbeschluss oder notariellen Vertrag mit einem Schuldner, dann muss Fred Waske dem Antrag auf Zwangsversteigerung nachkommen. Ob ein Anspruch auch materiell-rechtlich besteht, das heißt unter welchen Bedingungen ein Vertrag geschlossen wurde, prüft Fred Waske nicht. Wurde der Schuldner unter Druck gesetzt oder übers Ohr gehauen? Das müsse ein Richter entscheiden, sagt der Rechtspfleger entspannt und lächelt. »Auch unser Familienhaus«, sagt er, »könnte unter den Hammer geraten. Abbezahlt haben wir noch lange nicht.«