nd-aktuell.de / 18.09.1993 / Kultur / Seite 6

Die Äktschen war echt steil“

Ohne die Kinder ging auf dieser Märchenbühne vom „Rotkäppchen“ rein gar nichts. Sie buhten den bösen Wolf aus oder schrien „Weiter! Weiter! “, als der Vorhang - er trat in persona auf - sich weigerte, hochzugehen, sich gar zur Behauptung verstieg, daß Kinder nicht ins Theater gehörten, trampelten die aus Protest. Von zwei Clowns zum Mitmachen animiert. Am Ende ruderten sie nur noch mit Armen und Beinen, denn was ist eine geschulte Schauspielerstimme gegen dreihundert Kinderkehlen?

Diese Turbulenzen und eine artistische Ensembleleistung erlebte man bei „Rotkäppchen“ im Berliner carrousel Theater an der Parkaue. Peter Schroth, der Regisseur, hatte sich die Musical-Version der einstigen Polit-Rocker von Floh de Cologne ausgewählt, die auf einem Stück von Jewgeni Schwarz beruhte. Der Knirps Alexander, der neben mir saß und unentwegt die Aufführung kommentierte, fand „eigentlich“ alles wie im Märchen. Neu waren ihm allerdings der ängstliche Hase, die hübsche Natter und der vernaschte Bär, die Rotkäpp-

chen gegen den Wolf helfen sollten. Mißtrauisch beobachtete er den Fuchs, der Rotkäppchen an den Wolf verriet. Einen Riesenspaß hatte er an einer Handvoll Hasen-Winzlingen, die gegen den dickwanstigen Förster demonstrierten und lautstark protestierten, daß er die Großen stets laufen läßt, die Kleinen aber immer gleich einsperrt. Als der Förster sich gezwungenermaßen zur vielbejubelten Rettungsaktion bequemt, kommentiert., der ? Knirps neben mir: „Die Äktschen war echt steil.“

Was weiß der Kleine von den 68ern, und was weiß er vom linken Polit-Rock ä la Floh de Cologne, der hier zu klangvollem, gesetztem Musikantentum besänftigt wurde (musikalische Einrichtung Gunter Krex). Geschichte? Geschichte. Und doch war die Wahl dieser Version gut und die Äktschen steil. Rotkäppchen (Chiaretta Schörnig) rockte blänkäugig und leichtfüßig durch den spitzkegeligen Wald (Ausstattung Bernhard Schwarz), in dem der turnhüpfende Angsthase seine Pirouetten einarmig drehte (Sabastian Reusse). Der Fuchs

(Jörg Seyer) war ein Ausbund an List, und sogar die kranke Oma (Erika Sieger) twistete vergnügt vor ihrem Häusle, bevor sie verspeist wurde und im wölfischen Underground weitermachte. Alles turnte und zappelte kunstvoll (Bewegung Ute Kobrow), wie es bei Peter Schroth Brauch ist. Nur Ortwin Spieler sängspielte ganz einfach den bösen Wolf und wurde, wenn man ihn gerade mal nicht auspfiff, sehr gut verstanden.

Dieses artistische Zappeltheater nach Musik ist von starker Originalität, hat aber seinen Preis: Man sieht viel, versteht aber nicht allzu viel, selbst dort, wo die beiden Clowns (Thomas Pötzsch, Wesselin Georgiew) den Saal gerade mal nicht zum Sieden bringen, die Kinder also zuhören wollen. Das reduziert den sozialen Touch des Stückes und vertilgt manche sinnreiche Textreplik vom „Mut und der Einigkeit und der Freundschaft“, die in der Gefahr helfen. Was die Kinder gewiß mit nach Hause nehmen sollten. Ein großer Theaterspaß war es allemal.

KLAUS PFUTZNER