nd-aktuell.de / 01.06.1994 / Kultur / Seite 19

„Minus plus halbe plus minus Wurzel aus“

„Da(e)s-Orientierungs-Los“, aber fröhlich mit dem Jugendclub am Staatstheater Kassel

Eine zwölfköpfige Bande von Schulmädchen tobt ins Parkett. In demonstrativ braves wie bedeutsames Schwarzweiß gehüllt, tollen sie im Reigen auf die Bühne. „Minus plus halbe plus minus Wurzel aus“, tröten sie fröhlich im Nonsens-Chor ihr absurdes Mathe-ABC, daß die Haarschleifen nur so fliegen. Doch urplötzlich werden sie still, schauen wie aufgewacht verwundert um sich, klopfen den Boden ab. Eine schreit's heraus: „Aus! Vorbei! Die Schulzeit ist vorbei!“ Das trifft die Backfische reichlich unvorbereitet. Erste Reaktionen sind hilflose Alberei, die schließlich in ein ansteckendes Gelächter mündet. Große Freiheit, sei willkommen!

Doch was fängt man mit ihr an, wenn sie doch eigentlich eine Unfreiheit bedeutet. Man kann sich brüsten mit den Dingen, die man vermeintlich besonders gut gemacht hat: „Ich habe mich bemerkbar gemacht!“, „Ich habe schweigen können!“, „Ich bin vernünftig geworden!“, raunen sie, als handele es sich damit um geheimnisvolle Formeln. Aber Leerlauf- und Übersprung-

shandlungen, wie das sinnlose Zerfetzen von Papier, sind die Kennzeichen der „vernünftigen“ Erwachsenenwelt. Exzessiv wird das demonstriert, eine wahre Orgie mit Papierschnipseln setzt ein.

Die Weichen sind gestellt. Nicht nur für die Schulabgängerinnen mit dem „D(a)es-Orientierungs-Los“, sondern auch für ihr Theaterstück. Ab jetzt werden Teenie-Themen

um Anpassung und Gruppenzwang durchgespielt und dazu als erstes die neue Weiblichkeit ausprobiert. Mit Vamp-Allüre stehen die Mädels an der Rampe, und erst die wenig befreiende Wirkung von Haarspray treibt sie in Wut- und Verzweiflungsanfälle. „Gegen welche Regel habe ich mich vergangen? Gegen welche Rechte des Stärkeren habe ich mich vergangen?“, wird das Dilemma als Frage ins Publikum getragen. „Grundsätze“ werden umsonst gesucht.

Übrigens Weiblichkeit. Zerknüllte Illustriertenseiten stekken sich die Mädchen unter die Bluse, bis es nach Schwangerschaftsbauch aussieht. Zeit zu seufzen - das tun sie rhythmisch im Chor - und fürs „Vater unser“ „Kinder?!“ Das ausgesprochene Wort genügt, die

Bäuche werden flugs entleert. Sprüche aus den Poesiealben bieten die willkommene Möglichkeit zum Rückzug ins Innerliche: „. .oh, möge doch dein Herz so rein wie diese Seehundschnauze sein.“

Daß vieles, was sie in der Schule lernen, eher hinderlich als hilfreich fürs wahre Leben scheint, macht die turbulente Collage der Spielerinnen vom Jugendklub am Staatstheater Kassel überdeutlich. Am Ende ist die Bühne ein Schlachtfeld aus Papierfetzen, über dem eine hin- und herschwingende nackte Glühbirne langsam ausbrennt. Mit einfachen Mitteln, aber maximaler Wirkung zeigt das Stück die Ambivalenz dessen, was man Jungsein nennt. Nicht nur für Frauen lehrreich.

GISELA SONNENBURG