Das klitzekleine Mariefred ist heute wie ehedem schwedisches Idyll par excellence, zumal in allen an Kurt Tucholskys Sommergeschichte „Schloß Gripsholm“ geschulten blanken deutschen Augen. Das Mini-Städtchen mit seinem hochaufgerichteten schwarz-weißen Kirchturm und seinem Bilderbuch-Rathaus schmiegt sich diskret in die grüne Senke zwischen Mälarsee und Bläbärsskogen, dem Blaubeerwald über Slottsbrinken.
Von überall her sind zumindest die Spitzen der vier dickbäuchigen roten Türme des alten Königsschlosses - sie werden derzeit karmin aufgehübscht - zu sehen, in dem Peter alias Daddy und die so reizend „missingsch“ sprudelnde Lydia alias Prinzessin ihren Ulk mit deutschen Touristen trieben, und wo Peter, eingeschlossen in die Dunkelheit eines Schloßbrunnens, angstvoll der Befreiung durch die Geliebte harrte...
Doch kaum noch einer der Besucher aus Germanien fragt heute, wo denn im Schloß der Mann mit den 5 PS (oder mehr) gewohnt habe. Diese von Tucholsky selbst gewobene Legende war von den vielen, die sich um seine sieben Schwedenjahre ranken, die erste, die zeitig begraben werden konnte. Seit langem schon weiß man, daß Tucholsky jene fünf Monate im Sommer 1929 nicht im Kavaliersflügel des Schlosses, sondern auf der anderen Seite des Mälaren in „Fjälltorpet“ verbrachte, einem stattlichen Hause, in dem heute der Bauunternehmer Kjellnes residiert, dem schon bald nach seinem Einzug Ende der 70er Jahre die ersten deutschen Tucho-Fans auf den Pelz rückten. Unterdessen hat sich der kräftige Haudegen das Büchlein seines Vor-Vor-Vormieters zu Gemüte geführt und, der Schwede sagt's frei heraus, er konnte eine tiefere Bedeutung nicht finden in der andernorts so verzückt konsumierten Sommersaga.
Da lächelten die bewanderten Wanderer auf den Spuren des Meisters milde, hatten sie doch Stunden vorher im Kreise der Internationalen Kurt-Tucholsky-Gesellschaft dies Aha-Erlebnis: Nach jahrzehntelanger Abstinenz bemächtigte sich die deutsche Germanistik endlich auch des unterdessen in 13 Sprachen und in einer Weltauflage von über einer Million erschienenen „Schlosses
Gripsholm“ - und mit welcher Furore! Hatte bereits vor zwei Jahren der Münchner Professor Günter Häntzschel das verwandte „Rheinsberg“-Buch unter die Lupe genommen und als „friedliche Utopie auf dem Hintergrund militaristischer Omnipräsenz“ gedeutet, so überraschte nun Kirsten Erwentraut mit einem ungewöhnlichen Zugriff auf Tucholskys schwedische „Fingerübung“ Die junge Bamberger Germanistin legte Sigmund Freuds Gesamtausgabe (Tucholsky: „Elf Bände, die die Welt erschütterten“) neben die Sommergeschichte und fand nicht nur eine interessante Interpretation jener Brunnenszene: Die Furcht Peters sei die infantile Angst, die aus der Sehnsucht des Kindes nach der
Mutter entspringt. Die kesse Lydia, Vorbild war die Berliner Journalistin Lisa Matthias („Lottchen“), als Muttersurrogat - wer hätte das gedacht.
Doch das ist längst nicht alles. Die von einem Brief Tucholskys, der die Parallelität der Arbeit an Gripsholm und ausgiebiger Freud-Lektüre bezeugt, inspirierte Germanistin liefert verblüffende Traumdeutungen per Ödipuskomplex. In der Gestaltung der Figur der Kinderheimleiterin Adriani, in der Tucholsky ein zynisches Machtweib faschistischer Prägung vorwegnimmt, sieht sie gar die unmittelbare Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse. So findet sie Freuds Theorie der Ätiologie der Neurosen, die mit der Versagung sexueller Befriedigung argumentiert, in diesem Tucholsky'sehen Satz wieder: „Und in diesem Blick der Augen offenbarte sich mir eine tiefe Schlucht: diese Frau war niemals befriedigt worden, niemals.“
Bis Mariefred galt auch, daß Liebesgeschichte und Kinderheimstory auseinanderfallen würden. Doch Kirsten Erwentraut ist anderer Meinung: Die von Tucholsky unter Freud'schem Einfluß geschaffene Identität von Ich-Erzähler und Kind offenbare vielmehr eine einheitliche Anlage der Erzählung, die mit dieser Konzeption zugleich den (freilich nur teilweise eingelösten) Anspruch eines psychologischen Romans erhebe. Wer also künftig Mariefred und Schloß Gripsholm ansteuert: „Auch hier:“, so meinte schon Tucholsky in einer Rezension, „es geht nicht ohne Freud.“
Der Meister hielt's indes nicht nur mit dem gleich ihm ins Exil getriebenen Wiener Gelehrten. Nach Reichstagsbrand und Bücherverbrennung fordert er eine radikale Selbstkritik der Unterlegenen, begibt sich aber nicht, wie viele Jahre gebetsmühlenartig in bundesdeutscher Publizistik und Forschung wiederholt, in die düsteren Gefilde der Resignation. Vielmehr rang der seit 1929/30 im schwedischen Exil in Hindäs bei Göteborg Lebende um eine neue Doktrin, deren Ansätze er zunächst vor allem bei dem republikanischen französischen Mystiker Charles Peguy (1873-1914) und der um die gleichnamige Zeitschrift gescharten Gruppe L'Ordre Nouveau zu finden glaubte.
Und auch hier macht sich junges Blut in der Tucholsky-Forschung geltend. Der Oldenburger Germanist Renke Siems lokalisiert die Peguy-Faszination Tucholskys vor allem in
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/489347.schloss-gripsholm-auch-hier-geht-s-nicht-ohne-freud.html