nd-aktuell.de / 26.03.2004 / Kultur
Macht Platz, Genossen, für den da...
Von einem, der auszog, das Denken zu lehren: Mit der Gitarre als Knarre wird Reinhold Andert heute 60
Edda Rydzy-Seifert und Hanno Harnisch
Wer Reinhold Andert ist, lässt sich über Tschingis Aitmatow erklären. Dessen »Richtstatt« gehörte in der späten DDR zu den am meisten verehrten Romanen. Seine blauäugigen Wölfe, die sich am Leben berauschen wollten und unsäglich an einer lebensfeindlichen, absurden, sich sozialistisch nennenden Menschenwelt litten, lösten ein dunkles Wissen aus. Hätten die Wölfe singen können, dann wären ihre Lieder die von Wladimir Wyssozki gewesen: Kehlig, verzweifelt und unendlich lebendig. Reinhold Andert übersetzte Wyssozki ins Deutsche. 1988 kam der Liedband heraus. Unter Kennern gilt er als die beste Übersetzung - eine Kostbarkeit. Das ist kein Zufall. Andert, 1944 in den Sudeten geboren, wurde katholisch erzogen. Als er in Thüringen heranwuchs, fand neben dem christlichen auch ein sozialistischer Glaube in ihm Platz. Das war damals nicht so selten. Nachdem er das bischöfliche Vorseminar in Schöneiche vorzeitig verlassen hatte, ging er 1962 bei einem Orgelbauer in Gotha in die Lehre, machte an der Abendschule das Abitur, trat in die SED ein und studierte ab 1964 an der Humboldt-Universität Marxistisch-Leninistische Philosophie, um sie dann nicht nur an der Schauspielschule in Berlin-Schöneweide zu lehren, sondern vor allem, um sie in Liedern lebendig werden zu lassen.
Ohne Reinhold Andert hätte das Singen in der DDR einen anderen Verlauf genommen. Das ist heute dem großen Publikum ziemlich egal. Damals war es wichtig. In Schule und Uni wurde etwas dröge »das SU-Bild« propagiert. Andert sang sehr lebendig vom Lenin-Mausoleum, von Tanja, die gestern am Ostbahnhof ankam, und vom Ehrenmal im Treptower Park. In der Zeit der großen Verbrechen der Roten Khmer war Andert einer der ganz wenigen DDR-Menschen, die in Kambodscha erlebten, wie Träume und Menschen starben. Wenn Andert agitierte, dann im Wortsinn: Durcheinanderschütteln. Um allerdings wieder möglichst viele möglichst produktiv zusammenzubringen. »Die eigne Diktatur erst macht uns frei«, das war Dialektik à la Andert. Er sang von Ewald, dem Vertrauensmann, und vom Toilettenmann vom Antonplatz. Und wenn er dann knarzig-nachdenklich auf der Bühne des »Festivals des politischen Liedes« stand, dann mochten ihn die, die einen guten Sozialismus mochten. Doch genau das, was ihn beliebt machte, wurde ihm zum Verhängnis. So einer konnte einfach nicht umhin, kritische Lieder und Texte zu schreiben. 1980 - in Wyssozkis Todesjahr - flog Andert aus der SED und erhielt Berufsverbot. Leute, die früher um seine Aufmerksamkeit gebuhlt hatten, drehten sich nun weg, wenn sie ihn sahen. Plötzlich seine Freunde genau zählen zu können, ist eine Erfahrung für sich. Zum Schweigen verurteilt, floh der Philosoph und Liedermacher in die Geschichte des thüringischen Mittelalters und entwickelte sich, fernab der Politik, zum Experten für ein Spezialgebiet.
Jemandem, der während der Wendezeit mitten in Berlin in der Leipziger Straße wohnte, konnte jedoch viel passieren. Reinhold Andert begegnete beim Einkaufen der Tochter Erich Honeckers, spürte an ihr das Mal der Geächteten, das er selbst gut kannte, und brachte es nicht fertig wegzusehen. Daraus ergaben sich monatelange enge Kontakte zum Ehepaar Honecker und schließlich Ende 1990 das Protokoll-Buch »Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör«. Das war dann - nach Jahren Auftritts- und Druckverbot für Reinhold Andert nicht unwichtig - auch ein finanzieller Erfolg. 2001 erschien dann noch »Nach dem Sturz. Gespräche mit Erich Honecker«. Zur Sprache kommen dort Dinge, die das Ehepaar Honecker aus den Gesprächsprotokollen von 1990 wieder herausgestrichen hatte. Auch solche, die damals keinen Platz finden konnten, weil Andert hauptsächlich als Fragender in Erscheinung trat. Durch den ebenso atemberaubend wie beklemmend sachlichen Text erhält das System DDR in biografischen Skizzen, in Psychogrammen und Szenen eine bisher so nicht vorhandene Tiefenschärfe. Nur selten gibt sich der Satiriker zu erkennen. Honeckers Beschwerde, man habe vor seinem Sturz »noch nicht einmal den Anstand besessen, der in unserer Partei immer üblich war, vorher mit dem Genossen, den das betraf, zu sprechen«, kommentiert der Autor: »Das ist allerdings nicht ganz richtig, denn den "Anstand",...den hatte es nie gegeben.« Es folgen Namen von Genossen, die es - ohne Vorwarnung - zum Teil mit dem Tod betroffen hat.
Reinhold Andert ist sehr lebendig. Hadert nach wie vor mit dem System, das ihn umgibt, dem er sich nicht ergeben will. In einem Bändlein hat er mal beschrieben, wie es hätte kommen können, wenn die Wende 89 andersrum verlaufen wäre. Ist sie aber nicht. Uns so ist das Kontinuum im Leben von Reinhold Andert nicht ein gesellschaftliches System, sondern eher die Frau an seiner Seite, die Cello spielt, ihn mal beruhigt, ihn auch mal aufregtund die davor gesorgt hat, dass die Kinder des Hauses Andert dem Wohlklang der Musik mehr folgen als dem Missklang garstiger Worte. Kontinuum auch die Wohnung in der Leipziger Straße, in deren riesigem Wohnzimmer so manche gute Idee geboren, manche schlechte wieder verworfen wurde. Gratulation zum Sechzigsten, verbunden mit dem Wunsche, dass er öfter wieder zur Gitarre greifen möge. Auch wenn die Töne nicht virtuos einherkommen, die gesungenen Worte und Sätze sind es allemal. Sind wie Spektralfarben, die, wenn sie vollständig zusammentreffen, weißes Licht ergeben. Andert ist vielleicht so etwas wie die letzte fehlende Farbe. Er fügt das Wissen, das man zuvor schon über das politische System der DDR besaß, zu einer besonderen Vollständigkeit. Zu einem weißen Licht. Aitmatows Wölfe würden es anschweigen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/50823.macht-platz-genossen-fuer-den-da.html