„Ein Menschenschicksal“ hieß der Film, der während der Internationalen Moskauer Filmfestspiele 1959 im Kreml-Theater den Zuschauern aus vielen Ländern den Atem nahm. Entstanden nach einer Erzählung von Michail Scholochow, schildert er das Schicksal von einfachen Menschen in der Sowjetunion, die die ganze Last der faschistischen Aggression gegen ihr Land und das Elend des Nachkriegs zu tragen hatten und dennoch Würde und Menschlichkeit nicht preisgaben.
Als Sergej Bondartschuk, Hauptdarsteller und Regisseur dieses Films, vor 35 Jahren noch ein wenig schüchtern und ungelenk - die Bühne betrat, um den Großen Preis der Festspiele für sein Regiedebüt entgegenzunehmen, bereiteten ihm die Teilnehmer des Festivals noch einmal Ovationen. Sie wußten, dieses meisterliche Werk wird in die Filmgeschichte eingehen.
Sergej Bondartschuk, der am vergangenen Donnerstag im Alter von 74 Jahren in Moskau gestorben ist, war ein Schauspieler und Regisseur von hohen Graden. Er stand in der besten Tradition klassischer russischer realistischer Schauspielkunst. Als Filmregisseur hat er, wie mir scheint, viel von Eisenstein, Romm, Jutkewitsch und Gerassimow empfangen. Bondartschuk trug die Fähigkeit in sich, als Darsteller subtile menschliche Regungen wiedergeben zu können. Laurence Olivier, der große englische Shakespeare-Tragöde, schrieb ihm, nachdem er den „Othello“-Film von Jutkewitsch gesehen hatte, wie sehr er von Bondartschuks schauspielerischer Leistung als Hauptdarsteller beeindruckt war
Als Regisseur war Bondartschuk auch ein Inszenator gewaltiger Panoramen mit Tausenden Darstellern. Man rühmte an ihm die Sorgfalt, mit der er jede Arbeit vorbereitete, das Filigrane, mit dem er unterschiedliche Charaktere interpretierte, die Achtung, mit der er sich Tolstois Epos „Krieg und Frieden“ näherte, als er gemeinsam mit Wassili Solowjow das Szenarium für den vierteiligen Film schrieb, die
Regie und auch noch die Rolle des Pierre Besuchow übernahm. Der monumentale und gleichzeitig feinfühlige Film erhielt 1965 den Grand Prix der Moskauer Filmfestspiele und 1968 den amerikanischen Oscar als beste ausländische Produktion. „Waterloo“, „Sie kämpften für die Heimat“ und „Rote Glocken“, ein Film über den amerikanischen Journalisten John Reed, „Onkel Wanja“ und „Boris Godunow“ - Werke
der siebziger und achtziger Jahre -, einige in Koproduktion mit italienischen Produzenten entstanden, erreichten nicht die gleiche künstlerische Geschlossenheit.
Bondartschuk war in seiner Heimat hochgeehrt und auch im Ausland ein anerkannter Künstler Er gab sein Wissen an der“ Filmhochschule weiter, war Leiter des Lehrstuhls für Schauspielkunst. Im Ergebnis der politischen Veränderungen
in der UdSSR wurde er als Vorsitzender des einflußreichen Filmverbandes abgelöst. In letzten Interviews hat er sich für die Bewahrung der russischen Filmkunst als nationales Kulturgut ausgesprochen. Gestorben ist er über der Arbeit an einer Fernsehserie: Bondartschuk wollte als Regisseur Scholochows „Stillen Don“ auf den Bildschirm bringen.
HORST KNIETZSCH
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/513699.tolstois-meisterepos-fand-in-ihm-einen-meister.html