Können seit dem gestrigen Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs (BGH) Tausende frühere Richter und Staatsanwälte der DDR aufatmen, gegen die wegen Rechtsbeugung ermittelt oder bereits Anklage erhoben wird? Der Strafverteidiger Prof. Dr. Erich Buchholz rechnet nicht damit. Obwohl die Fälle des politischen Strafrechts der DDR, bei denen Rechtsbeugung in Betracht kommt, „ganz erheblich eingeschränkt“ wurden, meint er: „Die Unsicherheit bleibt.“
Der Senatsvorsitzende Heinrich Laufhütte hat den Grund dafür selbst genannt: der Systemwechsel beim Anschluß der DDR an die Alt-BRD, dem mit dem ganzen Volk der DDR auch deren Juristen ausgesetzt waren. Im Bereich des politischen Strafrechts hatte sich zwar schon seit Beginn der „Wende“ in der DDR viel gewandelt. Doch juristisch relevant wurde das vielfach erst über Nacht mit dem Beitritt zum Grundgesetz. Denn faktisch hatten von Stund an Staatsanwälte aus der Alt-BRD und deren Richter-Kollegen zu entscheiden, was in der DDR
Recht und damit gegebenenfalls auch Rechtsbeugung gewesen ist. Abgesehen davon, daß sie vielfach kaum konkrete Ahnung von dem in Gesetzen und Verordnungen sowie Beschlüssen des Obersten Gerichts der DDR schriftlich fixierten Recht hatten, ließen sich viele natürlich auch von einem prinzipiellen Vorurteil leiten: Die DDR war ein „Unrechtsstaat“
Daran hat auch der 5. Senat des BGH mit seinen gestrigen Urteilen und ihrer Begründung nicht gerüttelt. Im Gegenteil. Und jene Fälle, in denen das
Gericht an der Verurteilung wegen Rechtsbeugung festhielt, wirken z. T auch wie eine Bestätigung dafür. Zumindest so, wie sie Laufhütte dem Publikum darbot:
Da wurde eine Frau wegen „Herabwürdigung der DDR“ zu einem Jahr Haft verurteilt, weil sie einem ZDF-Reporter bei einer Straßenbefragung spontan gesagt hatte, der zur Pflicht erklärte Umtausch von DM in Forum-Schecks sei „ihrer Meinung nach“ eine „Entmündigung“. Acht Jahre Haft wurden dafür verhängt, daß jemand Flugblätter verteilt hat, in denen die DDR-Wirklichkeit von links kritisiert wurde. Auch zwei DDR-Bürger, die einfach mit ihrem Paß an die Grenze gegangen waren und die Ausreise begehrten, kamen ins Gefängnis. Ebenso eine 1/jährige, die von ihren Eltern in die Botschaft Dänemarks mitgenommen wurde, wo sie politisches Asyl begehrten.
In all diesen Fällen kam auch der BGH zu der Ansicht, daß die Urteile nicht durch DDR-Recht gedeckt waren. Aber viele andere Verurteilungen - wegen des Versuchs der „Republikflucht“, wegen DDR-feindlichen Demonstrationen, selbst wegen Verstoßes gegen die Restriktionen, denen alle DDR-Bürger praktisch hinsichtlich des verfassungsmäßig zugesicherten Rechts der Meinungsfreiheit ausgesetzt waren - betrachten die BGH-Richter zwar als „rechtsstaats- und menschenrechtswidrig“, doch nicht als Rechtsbeugung. Es sei denn, es wurden exzessiv überhöhte Strafen verhängt oder Verfahrensvorschriften drastisch verletzt.
Interessant ist die politischmoralische Begründung des Gerichts für diese Begrenzung: Anders als bei der Tötung von Flüchtlingen an den Grenzen zur BRD und Westberlin seien
Verweigerung der Ausreise oder des Versammlungsrechts „kein unerträgliches Unrecht“ Dabei dürfe man nicht von den am Grundgesetz orientierten Wertvorstellungen in der (Alt-)BRD ausgehen.
Würden sich Staatsanwälte und Gerichte peinlich genau an diese Kriterien halten, wäre wohl der Großteil aller anhängigen Rechtsbeugungsverfahren erledigt. Prof. Buchholz glaubt dennoch nicht daran. Zwar sei in der Urteilsbegründung des BGH „ein Bemühen um weitere Differenzierung erkennbar“ Der Strafverteidiger führt das nicht zuletzt darauf zurück, daß immer mehr Revisionsfälle auf den Senat zukommen. Doch zugleich rügt er dessen „Unscharfe der Begriffe“ Vorwürfe wie „schwere Menschenrechtsverletzung“ und „Willkür“ bleiben in der Tat letztlich stets subjektiv
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/570201.der-vorwurf-des-bunrechtsstaatsl-ddr-bleibt.html