nd-aktuell.de / 01.11.1995 / Kultur / Seite 10

„Die Poesie der Erde endet nie“

Geschult an der formenstrengen und doch leidenschaftlichen Sprache der Griechen, am attischen Lied, hat ein Londoner Jüngling Naturbeschreibungen, Kunstbetrachtungen, Verse über Leben, Liebe, Tod der Nachwelt überliefert zum atemlosen Staunen über so viel Wohllaut. Schönheit vollendet sich zur ästhetischen Wahrheit. „Die Poesie der Erde endet nie“, heißt es in „Grille und Heimchen“ In naivischem Höhenflug erheben sich die Insekten zum sangeswerten Gegenstand, wird die Zigeunerin Old Meggy zur vitalen Überlebenskünstlerin im Heidemoor, sind die Ode an Psyche, die Oden auf Lässigkeit oder gar Melancholie auch heute noch Wortklang von lebensbejahender Wirkung. Der Autor der später weltberühmten „Ode auf eine griechische Urne“ aber starb, nur von wenigen Freunden betrauert, im Alter von fünfundzwanzig Jahren in Rom an Tuberkulose.

Ganze vier intensivst gelebte Schöpferjahre waren ihm vergönnt, in denen Sonette, Balladen, Versepen wie „Endymion“ (1818) und „Hyperion“ (1820) entstanden. Jedoch sei-

ne Dichtung wurde, zeit seines kurzen Lebens, von der herrschenden Kulturkritik verrissen als Schreiberei eines Verfassers niederer Herkunft, als Cockney-Poesie: Keats kam am 31. Oktober 1795 als Sohn eines Stallmeisters und Mietkutschenbesitzers zur Welt. Die Eltern starben früh. Die Schulbildung in Enfield weckt die Liebe zur Literatur; aber sein Vormund drängt ihn zu einer medizinischen Laufbahn. John lernt bei einem Chirurgen, dann bei einem Apotheker, arbeitet schließlich als Assistent in einem Armenkrankenhaus und muß viel menschliches Leid miterleben. Er trotzt dem Elend, um sich als 21 jähriger, nun volljährig, ganz der Lyrik zu widmen.

Sein Werk wird der Romantik zugeordnet, aber in seinen besten Texten ist er jeglicher Stilrichtung und Klassifizierung entwachsen: Er gewinnt eigenständige Klasse und klassische Höhe in einer unverwechselbaren Dialektik von Antike und Gegenwart. Die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit pulsieren durch seine lyrischen Visionen, die vielleicht am ehesten denen

Friedrich Hölderlins zu vergleichen sind.

Erst-die Nachgeborenen begreifen die Größe von Keats. Der Oxford-Professor Matthew Arnold (1822-1888) entdeckt das Werk neu, die Präraffaeliten machen Keats' Bedeutung der Öffentlichkeit bewußt. Im deutschsprachigen Raum werden Hofmannsthal und Rilke zu Fürsprechern und Bewunderern. Alexander von Bernus, Georg von der Vring und Hans Hennecke haben erste Nachdichtungen riskiert. 1960 erschien ein InseL-Band mit den wunderbaren Übertragungen von Heinz Piontek. Reclam Leipzig hat 1980 eine Anthologie herausgegeben, in der u.a. Adolf Endler, Günter Kunert und Stephan Hermlin als deutsche Anwälte von John Keats auftreten, und Rainer Kirsch gab dem Band (aus „Endymion“) die Titelzeile: „Ein Ding von Schönheit ist ein Glück für immer“

Unter diesem Leitsatz Lyrik oder auch Briefe von Keats zu lesen, bedeutet nicht nur Erbauung, sondern auch Ermutigung.

BERNHARD SCHELLER