nd-aktuell.de / 19.02.1996 / Politik / Seite 12

Eine chinesische Version der Hallstein-Doktrin

Zu „Wer bedroht wen?“ von Helmut Peters (Außenpolitik-Seite vom 1. Februar):

Am 30. Januar dieses Jahres verkündete Li Peng, Ministerpräsident der Volksrepublik China, auf einer Pressekonferenz: „Es gibt nur ein China, und Taiwan ist ein untrennbarer Teil davon. Auch wenn sich Änderungen in der Führung Taiwans ergeben, bleibt die Insel weiterhin ein Teil von China. Um eine Abspaltung zu verhindern, würde China notfalls ohne Zögern Gewalt anwenden“

Eine solche Aussage können die Bürger Taiwans nicht akzeptieren. Taiwan gehört zwar geografisch, kulturell und historisch zu China; untersteht jedoch keineswegs der Regierung in Peking. China ist gegenwärtig ein geteiltes Land, wobei die Republik China (Be-

Zeichnung für Taiwan - d.Red.) die Regierungsgewalt über die Gebiete Taiwan, Penghu, Kinmen und Matsu ausübt, und auf der anderen Seite der Taiwan-Straße die Regierung der Volksrepublik über das chinesische Festland herrscht.

Der Volksrepublik nahestehende China-Wissenschaftler versuchen häufig, die Zugehörigkeit Taiwans zum Festland mit historischen Fakten zu untermauern. Zu diesem Zweck bemüht man immer wieder die Deklaration der Kairo-Konferenz vom Dezember 1943 oder das Potsdamer Abkommen vom Juli 1945. Meistens wird jedoch unterschlagen, daß zu jener Zeit Gesamtchina eine Republik unter der Regierung Chiang Kai-sheks war. Auf Taiwan bezogen bedeutet dies, daß die Insel zwar schon immer Teil der Republik, aber niemals der Volksrepublik China war. Mao gründete die

Volksrepublik erst 1949, als die Republik China ihren Regierungssitz bereits nach Taiwan verlegt hatte.

Bis 1971 repräsentierte die Republik China das gesamte China in den Vereinten Nationen. Erst als die Mehrheit der UN-Mitglieder der Meinung war, daß die Republik China die Interessen des Festlandes nicht mehr vertreten könnte, wurde das Mandat mit der UN-Resolution 2758 auf die Volksrepublik China übertragen und Taiwan aus der UNO ausgeschlossen. Das gleiche Argument könnte man heute freilich für Taiwan anführen: Wie soll die kommunistische Regierung in Peking die Interessen der 21 Miüionen Taiwanesen vertreten können? Taiwan wehrt sich gegen diese Ungerechtigkeit und bemüht sich seit nunmehr drei Jahren um eine Wiederaufnahme in die Vereinten Nationen.

Die Volksrepublik China betreibt seit Jahren eine Außenpolitik mit dem Ziel, Taiwan international zu isolieren. Sie vertritt eine chinesische Version der Hallstein-Doktrin, die es anderen Staaten unmöglich macht, gleichzeitig zu Peking und Taipei diplomatische Beziehungen zu pflegen. Aus diesem Grund unterhält Taiwan gegenwärtig nur zu 31 Staaten offizielle Beziehungen. Doch jenseits der diplomatischen Kanäle bestehen wirtschaftliche und kulturelle Kontakte zu etwa 140 Staaten. Dank seiner Wirtschaftsleistung ist Taiwan weltweit zum sechstgrößten Auslandsinvestoren, zur vierzehntgrößten Handelsnation und zu einem bedeutenden Geber von Entwicklungshilfe avanciert.

Die außenpolitischen Erfolge Taiwans in den vergangenen Jahren resultieren vor allem

daraus, daß man bereits 1994 den Alleinvertretungsanspruch aufgegeben hat. Auf diese Weise konnte Taipei in seiner Außenpolitik zu einem neuen, pragmatischen Ansatz gelangen und die informellen Beziehungen zu dritten Staaten fördern. Peking weigert sich jedoch beharrlich, die Realitäten anzuerkennen und hält am Alleinvertretungsanspruch fest. Die Fakten beweisen, daß Taiwan und Festlandchina auf dem internationalen Parkett de facto als politisch eigenständige und souveräne Einheiten auftreten. Dies schließt natürlich die Möglichkeit einer Wiedervereinigung nicht aus. Auch eine Parallelvertretung in der UNO würde diesem Ziel nicht zuwiderlaufen, wie das Beispiel Deutschland bewiesen hat. Es ist an der Zeit, die chinesische Hallstein-Doktrin zu überdenken.

Die Republik China hofft auf eine Wiedervereinigung zu einem späteren Zeitpunkt und ist an einer friedlichen Annäherung interessiert. Solange jedoch bestimmte Voraussetzungen - demokratische Reformen auf dem Festland und eine Angleichung des Lebensstandards - nicht erfüllt sind, müssen beide Seiten die Existenz zweier unabhängiger Gebilde anerkennen und endlich einen realistischen Ansatz für den Umgang miteinander finden. Eine aggressive „Ein-China-Politik“, die die Regierung in Taipei am liebsten aus der Welt schaffen würde, kann keine konstruktive Lösung hervorbringen und schadet der gesamten Region.

GEORGE WU. Leiter der Presseabteilung des Taipei Wirtschafts- und Kult turbüro Berlin