nd-aktuell.de / 02.11.2004 / Wirtschaft und Umwelt

Tarif im Schatten des Leuchtturms

Im Vorzeigeprojekt Zellstoffwerk Arneburg hält man sogar das Gehaltsniveau Ost für zu hoch

Uwe Kraus, Arneburg und Jörg Staude
Einen neuen industriellen »Leuchtturm« kann Sachsen-Anhalt seit letzter Woche sein Eigen nennen: das neue Zellstoffwerk bei Arneburg. Das Vorzeigeprojekt hat aber auch Schattenseiten.
Wolfram Ridder, der Geschäftsführer der Zellstoffwerk Stendal GmbH (ZS) bei Arneburg, kann von seinem Bürofenster aus über die Industriebrache des ehemals angefangenen DDR-Kernkraftwerkes Stendal blicken. Eine Hamburger Firma hat nun doch begonnen, die nie in Betrieb genommenen knapp 80 Meter hohen Reaktoren des KKW abzureißen. Von dort, wo einst das Dörfchen Niedergörne unweit der Elbe stand und später auf der »Großbaustelle des Sozialismus« weit über 10000 Menschen arbeiteten, sollte nach ursprünglicher Planung ab 2005 jede vierte Kilowattstunde Elektroenergie der DDR kommen. Nun versucht man, die meterdicken Stahlbeton-Mauern des Monuments des Scheiterns abzutragen oder gar zu sprengen. Von Kosten zwischen 50 und 100 Millionen Euro redet man auf der Baustelle.
Der 42-jährige Ridder steht für Aufbau und nicht für Abriss. Kürzlich konnte der ZS-Geschäftsführer zur Inbetriebnahme des größten und modernsten Zellstoffwerkes Europas auf dem weitläufigen Areal des ehemaligen KKW bei Arneburg auch den Bundeskanzler begrüßen. Der bemühte wieder einmal das Bild von den »industriellen Leuchttürmen« im Osten. Vielleicht hat ihn auch der rot-weiß geringelte Firmen-Schornstein des Zellstoffwerks daran erinnert.

Holz über Wasser, Schiene und Straße
Die Schiffe, die künftig im Elbe-Hafen, der noch 2004 fertig wird, vor Anker gehen, benötigen keine Leuchttürme, um bei ZS anzulegen. Ridder betrachtet die Wasseranbindung als eine starke Alternative zum Verkehr auf den Straßen und Schienen. »Zwei Binnenschiffe können hier gleichzeitig anlegen. Einerseits bringen sie Holz und Holzschnitzel, andererseits können sie Zellstoff zur Verschiffung nach Hamburg bringen oder über den Mittellandkanal den Raum Rhein und Ruhr bis hin zur Schweiz erreichen.«
Der Zellstoff aus dem Werk in der Altmark geht schließlich nicht nur nach West- und Osteuropa, sondern auch auf den asiatischen Markt. Gegenwärtig wickelt das Unternehmen die Hälfte seiner Lieferungen per Schiene ab. Drei bis vier Ganzzüge pro Tag rollen mit Rundholz und Hackschnitzeln an die Verladestation. Wenn das Werk im Vollbetrieb arbeitet, benötigt es Tag für Tag 9000 Festmeter Holz. 25 Festmeter passen auf einen der Lkw, die hier scheinbar ohne Pause anrollen. Auch wenn Ridder den Eisenbahnknoten Stendal zu schätzen weiß, verlangt er den weiteren Ausbau des hiesigen Straßennetzes. Im Vordergrund steht dabei natürlich der Bau der Autobahn A 14 von Magdeburg aus in Richtung Norden - für welche Variante der A 14 sich die Politik dabei letztlich entscheidet, ist dem ZS-Geschäftsführer nicht so wichtig. Entscheidend ist, »dass überhaupt eine Autobahn gebaut wird, statt für jedes Dorf eine Ortsumgehung zu planen«.
Hauptgesellschafter der ZS ist die Mercer International Inc., ein nordamerikanischer Branchenriese. Für den Konzern war Wolfram Ridder bereits von 1994 bis 1999 im Zellstoffwerk Rosenthal im thüringischen Blankenstein tätig. Mercer hatte dort nach mehreren gescheiterten Anläufen den Betrieb »fünf vor zwölf« (Ridder) von der Treuhand übernommen und 360 Millionen Euro investiert. Heute stellt Blankenstein 300000 Tonnen Zellstoff pro Jahr her. Dort war es erstmals deutschlandweit gelungen, die Zellstoffproduktion vom Sulfid- auf das umweltfreundlichere Sulfatverfahren umzustellen. Rosenthal - mit steigender Produktion und Qualität sowie sinkender Umweltbelastung - war für Ridder der Testlauf für Stendal. In der Zeit von Januar 2000 bis August 2002 seien die »Zutaten für das Projekt Arneburg gemischt worden«. Für den Standort nahe Stendal sprachen die Elbe, deren Wasser nötig ist, das für das Industrieareal bereits abgeschlossene Raumordnungsverfahren sowie die riesigen Holzvorräte in Deutschland. Noch immer wächst in der Bundesrepublik mehr Holz nach, als die Industrie verbraucht. Auch die Finanzierung der Milliarden-Investition in Arneburg stand nach einiger Zeit. Gut 275 Millionen Euro öffentliche Förderung flossen aus den Kassen von Bund, Land und EU in den Bau des Werks, schätzungsweise ein Drittel der gesamten Investition.
Mit Blankenstein und Arneburg produziert Mercer künftig etwa zwei Drittel des deutschen Zellstoffs. Das neue ostdeutsche Werk einberechnet, steigt der Konzern damit weltweit zur Nummer drei nach Södra (Schweden) und Canfor (Kanada) bei der Produktion von Zellstoff aus Holz auf.

Eigenes Kraftwerk bringt zusätzlichen Umsatz
Das Werk an der Elbe kann mit weiteren Lichtern glänzen. Es betreibt das derzeit größte Biomassekraftwerk Deutschlands. Die 50 Prozent der Ausgangs-Rohstoffe, die nicht zellulosehaltig sind, werden zur Energiegewinnung über moderne Kraft-Wärme-Kopplung eingesetzt. Wolfram Ridder greift zum Taschenrechner. »Wir erzeugen etwa das, was 250 bis 300 Windkraftanlagen schaffen, und müssen keine Energiereserven für Windstille bilden.« Von den 100 Megawatt, die das Kraftwerk erzeugt, benötigt das Werk 55 MW selbst, der Rest wird als »grüne Energie« ins öffentliche Netz eingespeist.
Der Aufbau des Werkes, angefangen von der Grundsteinlegung im Sommer 2002 bis zur offiziellen Inbetriebnahme jetzt im Oktober 2004, sei zwar, so Ridder, eine große technische Herausforderung gewesen. Viel wesentlicher aber war, »die richtige Mannschaft« zusammenzustellen, die die Anlagen fahren kann. Das gelang in kurzer Zeit »sehr, sehr gut«, resümiert der Geschäftsführer. Im April 2003 wurden die ersten 15 Mitarbeiter eingestellt, fast täglich erhöht sich der Personalbestand. Im Dezember 2005 sollen im Werk 580 Frauen und Männer Beschäftigung finden, darunter 30 Auszubildende. Das Werk schaffe darüber hinaus weitere Arbeitsplätze im Umfeld, denn das Rohmaterial kommt aus dem Umkreis von 300 Kilometern.
80 Prozent der derzeitigen Mitarbeiter des Zellstoffwerks - darunter auch Atomexperten, die dort einst die Kernreaktoren betreuen sollten -, kommen aus der Region. 30 Prozent der Zellstoffwerker waren vorher arbeitslos gewesen. 15000 Männer und Frauen hatten sich auf die bisher 500 besetzten Stellen beworben. Weil viele davon zwar hoch qualifiziert sind, es aber »fertige« Zellstoffmacher in Deutschland so gut wie gar nicht gibt, musste auf der soliden Grundausbildung aufgebaut werden. Seit September 2003 werden die Mitarbeiter auch in einer eigenen kleinen Fachschule auf dem Betriebsgelände qualifiziert.
Dass über ein Viertel der Belegschaft Frauen sind, hält Geschäftsführer Ridder in der heutigen Zeit und in der produzierenden Industrie für durchaus beachtenswert. Wolfram Ridder liegt offenbar auf der gleichen Wellenlänge wie Bundeskanzler Gerhard Schröder, der auf der Inbetriebnahme-Veranstaltung ein Plädoyer auf die Erfahrung älterer Arbeitnehmer hielt. »Damit fahren wir ausgezeichnet. Die älteren Spezialisten sind motiviert, den Wissensschatz ihres Lebens weiterzugeben. Dieser Know-how-Transfer tut uns sehr wohl«, meint der Geschäftsführer. Er hält den Standort Deutschland für leistungsfähig. Aber man müsse sich mit den Arbeitsplätzen »im internationalen Maßstab behaupten können«, erklärt er. Das Personalkonzept sei deswegen langfristig angelegt und konzentriere sich auf die Arbeitsplatzsicherung. »Darum sind wir mit einer 40-Stunden-Woche eingestiegen und werden nach Abschluss der Ausbildung unserer Fachleute die Gehaltsstruktur stufenweise anpassen«, meint Ridder.

Kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld
Die Botschaft wird die zuständige Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (BCE) gern hören. Denn die aktuelle tarifliche Lage beim »Leuchtturm« sieht eher düster aus. Nach BCE-Informationen existiert im Zellstoffwerk nicht einmal ein Haustarifvertrag, mit jedem Mitarbeiter seien »Einzelverträge« abgeschlossen worden, die an den Tarif der ostdeutschen Papierindustrie »angelehnt« worden seien, erklärt der Magdeburger IG-BCE-Bezirksleiter Wolfgang Weise. Abschläge gebe es, so Weise, im Stendaler Werk vermutlich bei den Sonderzahlungen. Warum der Mercer-Konzern dieses Vorgehen wählt und beispielsweise nicht die tariflichen Regelungen des Blankensteiner Werks Rosenthal in Arneburg übernommen hat, kann sich Weise nicht erklären. Er prüft jetzt erst einmal die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten im Werk und will bis zum Frühjahr nächsten Jahres einen Betriebsrat wählen lassen. Im nächsten Schritt könne man dann auch an Tarifverhandlungen denken. Als Maßstab könnte beispielsweise das Mercer-Werk Rosenthal dienen: Dort erhält ein gewerblicher Arbeitnehmer sogar deutlich mehr als die 7 bis 10 Euro pro Stunde, die der Ost-Flächentarif für die Papierindustrie vorschreibt. Dazu gibt es pro Urlaubstag 18 Euro Sonderzahlung sowie ein Monatsgehalt zusätzlich zu Weihnachten.
Das Fehlen eines Haustarifvertrags in Arneburg bestätigt der zuständige Personalleiter des Zellstoffwerks, Peter Trochalski, gegenüber ND. Er redet aber nicht so gern davon, dass man sich, wie Weise es ausdrückt, an den Ost-Papiertarif anlehne, sondern dass man sich an diesem eher orientiere. Dass in Stendal Einzelverträge abgeschlossen wurden, begründet Trochalski damit, dass viele tarifliche Regelungen in der Papierbranche, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, »nicht mehr in die Zeit passten«. Dazu gehören offenbar auch die Regelungen für Urlaubs- und Weihnachtsgeld, die im Stendaler Werk, wie Trochalski klarstellt, nicht gezahlt werden. Man zahle zwölf Gehälter und schließlich könne der Mitarbeiter selbst entscheiden, wann er das Geld ausgebe. Er kann dem positive Seiten abgewinnen. Führe man solche Tarifbestandteile erst gar nicht ein, komme man auch nicht in eine Lage wie »Opel oder VW, die den Leuten jetzt etwas wegnehmen müssen«, meint der Personalchef.
Warum in Stendal nicht die tariflichen Regelungen des Rosenthaler Haustarifs übernommen wurden, erläutert Trochalski mit der »unterschiedlichen Historie«. Einfach gesagt: In Thüringen übernahm Mercer ein bestehendes Werk mit vorhandener Belegschaft, während in Stendal ein neues auf der grünen Wiese entstand.
Der Verdacht, dass in Arneburg der Versuch eines Lohndumpings unternommen wird, lässt sich aber nicht ganz von der Hand weisen: Wenn in Arneburg das modernste Zellstoffwerk Europas steht, fragt man sich schon, warum die Beschäftigten noch lange wenigstens auf den Tarif Ost warten sollen? Im älteren Werk in Thüringen hat man schließlich sogar den Ost-Tarif hinter schon sich gelassen und nähert sich dem bayerischen an.