Von Peter Richter
Vor 35 Jahren wurde der Potsdamer Platz zugemacht. Jetzt wollen ihn große Firmen wie Daimler-Benz, Sony und andere wieder zur Welt hin öffnen. Mit Monumentalbauten, die manche erneut als Barrieren empfinden.
Gerade erst hat die Spree ihr angestammtes Bett verlassen müssen. Sie störte am Rande des Potsdamer Platzes. Um die Tunnel für Schiene und Straße verlegen zu können, wurde der Fluß abgeriegelt und nach Norden geleitet. Bald wird sein Bett ausgetrocknet sein und dann wird - auf einer Fläche von 95 mal 100 Metern - Beton in eine 17 Meter tiefe Grube eingebracht, werden Röhren gegossen, damit im nächsten Jahrtausend der Verkehr fließe - 58 000 Autos und Dutzende Züge täglich.
Vor 35 Jahren floß hier nichts mehr. Damals riegelte Beton zwei Welten voreinander ab. Erik Koetje hat Ähnliches in Nordirland gesehen, wo er beim Talsperrenbau arbeitete. Er, der durch die Welt reist, dorthin, wo es Arbeit gibt, schüttelt den Kopf: »Es ist schwer zu verstehen.« Er ist nicht lange in Irland geblieben, obwohl es ihm dort gefällt: Die Mentalität, die Landschaft, die Pubs, das Guinness. Er lacht und hilft einem Taucher, der auf schwankender Ponton-
brücke ins schwarz-rot-gelbe Gummizeug steigt. Er legt ihm den Helm an, mit Taschenlampe, Atemgerät, einem Schlauch nach oben. Gewichte kommen an Gürtel, Schienbein, Brust und Rücken. Die Einkleidung dauert nur Minuten, dann springt er ab, um siebzehn Meter unter der Wasseroberfläche zu montieren. Zeit ist Geld.
Hier wurden 2000 Pfähle eingebracht, durch die man Spezialbeton drückte, der die Rohre zu Ankern machte, um die riesige Fundamentplatte gegen den Auftrieb des Grundwassers zu halten. Auf ihr will Daimler-Benz zwei Büro- und zwei Wohngebäude, Einkaufsstraßen, ein Big Screen 3-D-Kino errichten. Das historische Weinhaus Huth, jetzt noch Bauzentrale, wird dann zwischen 16- oder 18-Geschossern verschwunden sein.
Koetje ist »selbständiger Taucher«, ein Einzelkämpfer, sein eigener Arbeitgeber und -nehmer Er zieht dorthin, wo er gebraucht wird, macht seinen Kontrakt und verdient sein Geld. Alles auf eigenes Risiko. 13 000 Mark kostete die Ausbildung, zehn bis 15 Prozent des Lohns gehen für die Unfallversicherung drauf; dabei war es schwer, überhaupt einen Versicherer zu finden.
Der Holländer macht das schon sechs Jahre, hat Erfahrungen und Routine. Gefährlich für ihn sind die anderen, die über Wasser. Was da passiert, weiß er nicht, wenn er in der Dunkelheit auf dem Grund bohrt oder schweißt. Dort kann er Gefahren nicht ausweichen. Er arbeitet zwölf Stunden am Tage, sieben Tage in der Woche, drei Wochen lang, manchmal auch mehr. Dann macht er eine Woche Pause. Er ist dreißig Jahre und will das
noch bis 45 oder 50 machen. Was dann wird? Man wird sehen ...
Von Altersabsicherung hält er nicht viel - in dieser unberechenbaren Welt. Er spricht von Kollegen aus Jugoslawien. Sie haben gerackert, sich jede Mark vom Mund abgespart, in die Heimat geschickt, dort ein Häuschen gebaut. Jetzt liegt es in Schutt und Asche, die Familie ist in alle Winde verstreut. »Was haben sie nun? Ich lebe jetzt.«
Mit solchen Geschichten spricht Erik Koetje über die Mauern dieser Welt. Die Berliner hat er nie gesehen, spüren tut er sie trotzdem. »Das hat sich noch nicht vermischt«, ist sein Gefühl. »Da gibt es immer Streit zwischen Kollegen aus dem Osten und Westen.« Worüber? »Früher war es besser, sagen sie. Die Mauer hier ist zwar weg, aber das Geld ist eine neue Mauer «
Der Satz könnte auch von Holger Hermann sein. Er sitzt in seinem Wagen des »Pick-Nick-Baustellenlieferservice« und wartet auf Kundschaft. Er ersetzt auf der Daimler-Benz-Baustelle die Kantine, die es hier nicht gibt. Er ist geduldet, aber nicht sehr willkommen. Was er verkauft - Bockwurst, Knacker, Wiener, dazu mal Schaschlyk, mal Schnitzel, mal Kohlroulade, mehr läßt die Hygiene nicht zu -, muß der Bauarbeiter gleich hier im Stehen verzehren oder irgendwohin in eine Pausenunterkunft tragen. Jeden Tag bekommt Hermann einen anderen Platz zugewiesen; der Bauablauf bestimmt den sozialen Standard. Wer Hunger oder Durst hat, muß den Wagen mit der auf-
gemalten lustigen Dorfidylle irgendwo auf dem staubigen Baugelände suchen.
Der Ostberliner hat bessere Tage gesehen. In der DDR war er 26 Jahre »in der Gastronomie« tätig. Genauer sagt er es nicht; vielleicht könnte man sonst bemerken, wie tief der Sturz nach der Wende war Die Mauer? Er zuckt die Schultern. Er ist froh, hier wenigstens noch etwas Nützliches tun zu können, ein wenig Geld zu verdienen. »Für eine feste Arbeitsstelle bin ich schon zu alt.« Er ist gerade 47
Daimler-Benz sieht streng auf sein Image. Eine umfängliche Pressemappe preist den Konzern und sein debis-Immobilienmanagement. Die Highlights des Bauablaufs finden sich farbig und auf Hochglanz in jährlichen Chronik-Broschüren. Und tatsächlich, auch Rainer Knerler, Geschäftsführer der Gewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt im Berliner Südwesten, nennt die Baulogistik auf dem Potsdamer Platz ein »Paradebeispiel für ganz Europa«. Aber er verweist ebenso auf die Widersprüche: »Viel Geld für Repräsentation, wenig für Soziales. Die Einrichtung einer Kantine wäre für die Firmen nicht mehr als Peanuts.« Er nennt andere Defizite: Unzureichende Unterkünfte, Arbeitszeitüberschreitungen, Unfallhäufigkeit, Lohndumping, Schwarzarbeit.
Bauleiter Berthold Breitschädel von der Firma Hochtief merkt man an, daß ihn Fragen danach etwas nerven. Seine Zeit ist bemessen. Er trägt die Verantwortung für einen zügigen Bauablauf, aber nicht für die Bauarbeiter-Versorgung, nicht einmal für den Arbeitsschutz. »In solche Privatsachen gewerblicher Arbeitnehmer mische ich mich nicht ein. Jeder hat für den eigenen Schutz zu sorgen.« Und was er dazu braucht - Helme, Schutzbekleidung, Schwimmwesten, Sicherheitsstiefel - stellt die Firma. Nur zwei kleine Unfälle habe es gegeben: Einer riß sich den Finger auf, ein anderer sei im Winter ausgerutscht.
Gering schätzt Breitschädel die sozialen Belange nicht. Er weiß, daß in den Containerunterkünften zwei Arbeiter auf 15 Quadratmetern wohnen, dafür sechs
Mark pro Tag bezahlen, aber auch täglich die Toiletten und Duschen gereinigt bekommen. Er schätzt, daß mit 64 Mark Auslösung am Tag der zweite Haushalt leidlich zu finanzieren ist. Er meint, daß zehn Elf-Stunden-Tage (bei Havarien auch länger) hintereinander und dann fünf freie Tage zu verkraften sind. Er legt Wert auf gute Arbeitsbedingungen, denn: »Wenn ich zufriedenes Personal habe, kann ich gut mit ihm arbeiten.« Was auch heißt: Die Termine halten, denn: »Termine sind eisernes Gesetz.«
Für den 48jährigen Hessen hat der Potsdamer Platz kaum eine historische Dimension. Ihn interessiert die technische Höchstleistung, das Know how des Tunnelbaus. Da ist er Spezialist und kann sich an immer neuen Herausforderungen beweisen. In Berlin hat er schon öfter gearbeitet, vor allem beim U-Bahn-Bau; im Osten war er nur einmal - eine Woche vor dem Mauerfall, und auch das nicht aus eigenem Antrieb. Natürlich hat er erlebt, daß Berlin isoliert war Wenn er mit dem Auto über die Transitstrecken kam. Ansonsten war der Potsdamer Platz für ihn Niemandsland, das er einst aus der Magnetschwebebahn unter sich liegen sah - von einem Betonbauwerk durchschnitten. Es schien für die Ewigkeit gebaut und zerbrach doch förmlich in einer Nacht.
Jetzt werden die letzten Reste getilgt, um Platz für neuen Beton zu schaffen. Erich Stanke, dem ein 90 Meter langes Mauerstück auf dem Potsdamer Platz gehört, muß erleben, wie der neue Grundstückseigner Sony es Stück für Stück entfernen läßt. Auf seine Proteste reagieren Senat wie Konzern mit ihren Rechtsanwälten. »Es ist offensichtlich nicht erwünscht«, sagt Stanke bitter, »daß die Mauer hier zur Mahnung stehenbleibt.« Daß er für den Standort kämpfe, sei rechtswidrig, »Besitzstörung«. Für den Eigentümer eine Selbstverständlichkeit und doch nur eine Variante dessen, was Erik Koetje von Ostberlinern gehört hatte: »Die Mauer hier ist zwar weg, aber das Geld ist eine neue Mauer «
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/622881.n-barrieren-aus-beton.html