Als am 30. April 1635 der deutsche Pädagoge Wolfgang Ratke (Ratichius) in der Barfüßerkirche zu Erfurt beigesetzt wurde, endete der Lebensweg eines pädagogischen Reformers, dessen Schaffen nur ansatzweise sowohl zu seinen Lebzeiten als auch durch die pädagogische Geschichtsschreibung eine gerechte Beurteilung erfahren hat. Der am 18. Oktober 1571 in Wüster/Holstein geborene Ratke gilt als Anreger des großen tschechischen Pädagogen Jan Arnos Komensky (Comenius), als ein anerkannter Mitbegründer des seinerzeit revolutionären Gedankens von einer allen zugänglichen Bildung, die Ratke durch »Allunterweisung« erreichen wollte. Sie sei »eine Fertigkeit, das menschliche Gemüt in allen verständlichen Dingen recht zu unterrichten«.
Seine Schul- und Universitätsausbildung erwarb sich Ratke vor allem am Hamburger Johanneum und an der Rostocker Universität, die gesellschaftlichen, erzieherischen Probleme der Zeit lernte er unter anderen bei einem mehrjährigen Aufenthalt zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Amsterdam kennen. Das Jahr 1612 wurde zum Auftakt und Ausgangspunkt für sein wirkungsvolles
Schaffen. Ratke nutzte im Mai 1612 in Frankfurt/Main die Anwesenheit der zur Kaiserwahl versammelten Fürsten, um der deutschen Öffentlichkeit das »Frankfurter Memorial« zu übergeben. Er sprach sich darin für eine von allen erlernbare einheitliche Sprache sowie für ein umfassendes Bildungswesen aus. Dieses Vorhaben, durch ein einheitliches, auf der Muttersprache basierendes System mehr Bildung auch dem einfachen Volke zu geben und darüber hinaus die politische und religiöse Spaltung in Deutschland zu überwinden, löste nicht nur in den in Frankfurt versammelten Kreisen kontroverse Diskussionen aus.
Ratke fand Förderer und Befürworter in den Herrscherhäusern Hessens, Sachsen-Weimars, im anhaltinischen Köthen sowie in Schwarzburg-Rudolstadt. Auch Städte wie Lübeck, Augsburg, Basel und andere waren seinen Plänen gegenüber zeitweise aufgeschlossen, wenngleich der von Ratke erhoffte Erfolg aus vielerlei Gründen ausblieb. Selbst ein vielversprechendes Angebot des Fürsten Ludwig I. von Anhalt-Köthen, das der Pädagoge in den Jahren 1618/19 mit großem Engagement betrieb, scheiterte nach gutem Beginn. Ratke hatte Köthener Jungen und Mädchen erstmalig die Möglichkeit einer umfassenden Einschulung eröffnet, Lehrbücher entwickelt sowie eine in Anfängen organisierte Ausbildung von Lehrern in-
itiiert. Aber nur wenige Wochen nach diesem verheißungsvollen Anfang traten seine Gegner auf den Plan. Sie vermochten den Fürsten mit zum Teil lächerlichen Argumenten zu beeinflussen, der Ratke daraufhin mehrere Monate in Warmsdorf in Gewahrsam nahm. Nachdem er einen Revers unterschrieben hatte, in dem er sich bezichtigte, mehr versprochen als gehalten zu haben, kam er frei. Diesen Sachverhalt nahm man neben anderen später zum Anlaß für eine Beurteilung, bei der er, der als eigenwilliger, aufbrausender, mitunter unüberlegt handelnder Geheimniskrämer typisiert wurde, stets einen negativen Zungenschlag erhielt. Unberücksichtigt blieb dabei eine spätere Aussage 1 ; er hätte noch Ärgeres unterzeichnet, um seine Freiheit zu erlangen.
Nach Aufenthalten in Halle und Magdeburg folgten ab 1622 schaffensreiche Jahre in Thüringen, wo Ratke in Rudolstadt, Jena, Kranichfeld und bis zu seinem Tode in Erfurt weitere Schriften zu pädagogischen, philosophischen und allgemeinen gesellschaftspolitischen Fragen verfaßte (»Die Schuldieneramtslehr«, »Die Regentenamtslehr«). Leider zerschlugen sich in seinen letzten Lebensjahren auch bestehende Kontakte mit dem schwedischen Königshaus vor allem in der Person des Kanzlers Oxenstierna (ab 1632). Die Weiterführung des pädagogischen Gedankengutes des Wolfgang Ratke geschah in erster Linie durch Komensky, der seinerseits Ratke eine »Koryphäe unter den Didaktikern« nannte. Beide haben das pädagogische Denken über die Jahrhunderte hinaus maßgeblich beeinflußt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/631685.unbequemer-vordenker.html