nd-aktuell.de / 18.12.2004 / Wissen

Wegbereiter der Evolutionstheorie

Vor 175 Jahren starb der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck

Martin Koch
Wie kam die Giraffe zu ihrem langen Hals? Nicht wenige Menschen dürften sich die Sache etwa so vorstellen: Um an die Blätter der hohen Bäume zu gelangen, mussten sich die kleineren Vorfahren der Giraffe gewaltig strecken, so dass ihr Hals über gestärkte Muskeln ein Stückchen länger wurde. Sie vererbten diesen längeren Hals an ihre Nachkommen, die sich erneut nach oben reckten und so wieder ein paar Zentimeter zulegten usw.
Diese Vorstellung ist leider falsch. Gleichwohl hat sie bei der Herausbildung der Evolutionstheorie eine wichtige Rolle gespielt. Als der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck am Anfang des 19. Jahrhunderts die These vertrat, dass erworbene Körpermerkmale und Eigenschaften in der Generationenfolge vererbt werden können, legte er zugleich den Grundstein für die wissenschaftlich-kausale Beschreibung des Artenwandels und erschütterte damit nachhaltig den Glauben an die biblische Schöpfungsgeschichte.
Als 11. Kind eines verarmten Adligen am 1. August 1744 im nordfranzösischen Bazentin-le-Petit geboren, besuchte Lamarck die Jesuitenschule von Amiens. Danach trat er in den Militärdienst, den er jedoch nach wenigen Jahren aus gesundheitlichen Gründen wieder quittierte. Er studierte in Paris Medizin und trieb nebenher umfangreiche botanische Studien, deren Ergebnisse er 1778 in seinem mehrbändigen Werk »Flora von Frankreich« niederlegte. Von 1793 bis 1818 lehrte er als Professor für Zoologie am Pariser »Naturhistorischen Museum«, an dessen Gründung er nach der Revolution selbst mitgewirkt hatte. Lamarck war vier Mal verheiratet und starb - fast erblindet und in ärmlichen Verhältnissen - am 18. Dezember 1829 in Paris.
Dass wir die Wissenschaft von der belebten Natur heute als »Biologie« bezeichnen, ist ebenso sein Verdienst, wie die Gliederung des Tierreichs in Wirbellose und Wirbeltiere. 1809 veröffentlichte Lamarck sein zweibändiges Hauptwerk »Zoologische Philosophie«, in dem er die Grundgedanken seiner Evolutionstheorie entwickelte. Denn das sorgfältige Studium der Weichtiersammlung des Naturhistorischen Museums hatte ihn um etwa 1800 zu der Überzeugung geführt, dass Arten nicht konstant sind, sondern sich im Laufe der Zeit allmählich verändern. Doch was veranlasst diesen Wandel?
In erster Linie der »tätige Gebrauch der Organe«, erklärte Lamarck. Das heißt: Wenn ein Lebewesen ein bestimmtes Organ permanent beansprucht, wird dieses immer kräftiger ausgebildet, derweil es verkümmert, wenn man es nicht oder nur sehr wenig benutzt. Weiter postulierte er, dass die so erworbenen Merkmale und Eigenschaften eines Organismus in der Generationenfolge vererbt werden. Dieser Auffassung schloss sich später auch Darwin an, nach dessen »Pangenesis-Theorie« (1868) Informationen über Veränderungen in den Körperzellen durch winzige Partikel in die Keimzellen gelangen und dort gleichsam gespeichert werden.
Der deutsche Biologe August Weismann machte die Probe aufs Exempel. In 22 Generationen schnitt er geschlechtsreifen Mäusen die Schwänze ab, ohne dass deswegen eine schwanzlose Maus geboren wurde. 1885 formulierte er seine noch heute gültige Keimbahntheorie, die unter anderem besagt, dass die Keimzellen (Spermien, Eizellen) eines Tieres und somit dessen Erbanlagen weder beeinflusst werden durch das, was der Körper lernt, noch durch irgendwelche Fähigkeiten, die er im Verlaufe des Lebens erwirbt.
Oder in Begriffen der modernen Molekularbiologie ausgedrückt: Von den Proteinen, den Funktionsträgern der Zelle, kann Information niemals in die Gene gelangen. Zwar werden in der Entwicklung eines Individuums Gene an- und abgeschaltet, die Erbinformation jedoch, das heißt die Abfolge der Basen in der Desoxyribonukleinsäure (DNS), bleibt davon unberührt. Die DNS ist gleichsam schreibgeschützt. Aus gutem Grund, denn ein Übermaß an genetischen Veränderungen würde die Entwicklung der Organismen unnötig gefährden.
Gleichwohl gibt es nach wie vor Bemühungen, die Lamarcksche Kernthese von der Vererbung erworbener Eigenschaften experimentell zu verifizieren. Die dabei angeblich erzielten Erfolge resultieren jedoch überwiegend aus Fehlern bei der Durchführung bzw. Auswertung der Experimente. »Mir ist keine einzige seriöse Arbeit bekannt, die eine Vererbung erworbener Eigenschaften stichhaltig belegen würde«, erklärt der Kasseler Evolutionsforscher Ulrich Kutschera, der aber zugleich bedauert, dass die Leistung Lamarcks in der Literatur kaum angemessen gewürdigt werde: »Lamarck war der Begründer der Evolutionslehre und damit einer der wichtigsten Vorläufer Darwins.« Und obwohl er sich grundsätzlich irrte, was die Vererbung erworbener Eigenschaften angeht, sei der Einfluss der Umwelt auf das Evolutionsgeschehen auch ein bisschen von »Lamarckscher Art«.
So hat Randy Jirtle von der Duke University in Durham (USA) unlängst festgestellt, dass bei Mäusen, die eine sehr vitaminreiche Kost erhalten, das Fell der Nachkommen viel dunkler ausfällt als bei normal ernährten Mäusen. Verantwortlich für die Farbe des Fells ist das so genannte Agouti-Gen, dessen Aktivität nachweislich von speziellen Abbauprodukten der verzehrten Vitamine (B12, Folsäure etc.) abhängt. Das heißt: Der Umweltfaktor Ernährung verändert zwar nicht die Struktur der Gene, aber er beeinflusst ihre Expression und damit die Ausbildung spezieller Merkmale. Ob diese Merkmale freilich weiter vererbt werden, ist eine offene Frage, die Jirtle im Experiment demnächst beantworten möchte. Was immer dabei herauskommen mag. Tatsache ist, dass die Umwelt auf epigenetische Prozesse viel stärker einwirkt als bisher angenommen. Kutschera sieht darin sogar eine gewisse »Rehabilitierung« von Lamarck, »der bis heute verketzert wird, obwohl er am Aufschwung der Biologie im 19. Jahrhundert maßgeblichen Anteil trug«.
Abschließend noch ein Wort zum langen Hals der Giraffe. Wie ist dieser wirklich entstanden? Nach darwinistischer Lesart reckten die Vorfahren der heute lebenden Giraffen ihre Hälse keineswegs kraftvoll gen Himmel, sie brachten vielmehr Nachkommen mit kürzeren und längeren Hälsen zur Welt, und nur diejenigen, die am besten an die Blätter der Bäume gelangten, haben überlebt und sich fortgepflanzt.

Weitere Informationen zum Thema: www.evolutionsbiologen.de