nd-aktuell.de / 06.01.2005 / Kultur
Not, Gier, Jähzorn
Corinna & Henry Köhlert: Verbrechen aus Goethes lieblicher Heimat
Irmtraud Gutschke
Was Goethe betrifft, sein Name fällt mal kurz auf Seite 175. Hans Saller von der Polizeikommission in Erfurt hatte zwar von dem Mann, der sich »am Hof zu Weimar um fast alles kümmerte, schon gehört. Aber für ihn war er ein Hofnarr unter vielen.« Auch muss man verstehen, dass zwischen Erfurt und Weimar eine Landesgrenze verlief. Saller stand in preußischen Diensten, und in der Klassikerstadt, damals offenbar schon auf Touristen abonniert, herrschte der Großherzog. Aber die Chaussee zwischen beiden Städten war hervorragend ausgebaut. 90 Minuten brauchte Saller zu Pferd bis zum dortigen Kriminalgericht, wo man seine Hilfe angefordert hatte. Denn ermittelt werden sollte im Dorf Mittelhausen, das nach dem Wiener Kongress, der die Landkarte Thüringens ziemlich umgekrempelt hatte, aus preußischem Besitz zum Großherzogtum gekommen war. Eine Dienstmagd war tot im Brunnen gefunden worden
Zwischen dem 26. Dezember 1805 und dem 22. Juli 1819 spielen die drei Geschichten, die Corinna und Henry Köhlert verfasst haben: Historische Kriminalfälle, aus Zeitungen von damals und aus Gerichtsakten recherchiert, bilden den Rahmen für Erzählungen, die dem Leser anschauliche Vorstellungen von der damaligen Zeit geben sollen. Den größten Reiz bietet die Lektüre wahrscheinlich für Leute, die in dieser Gegend wohnen, also Ortsnamen und Landschaften wiedererkennen. Kann ja sein, zwischen Gispersleben und Kühnhausen gibt es immer noch diesen Feldweg, wo am Morgen des 21. August 1806 Johann Benjamin Hommel, Zweiter Erfurter Bürgermeister, zusammengeschlagen wurde. Unsereins in Berlin kann den beiden Erfurter Autoren nur glauben, dass sie orts- und sachkundig sind. »Was bitte trug ein Kommissar vor mehr als 200 Jahren im Dienst? Gab es überhaupt Kommissare? Wer fing Diebe, wer die Mörder? Wie sah damals eine Stadt aus? Wie roch sie?« - durch die Alltagsforschungen der beiden wird das Buch erst richtig interessant.
Was die Verbrechen betraf: Dumpf waren sie und die Strafen drastisch. Not, Gier, Jähzorn - die Motive ähneln sich: Jemand trachtet, seine ansonsten ausweglose materielle Lage zu verbessern, und hat keine Skrupel. Ist auch nicht besonders schlau und wird irgendwann gefasst. Grausame Hinrichtungen wie das Rädern dienten zur Abschreckung - und zogen Tausende Schaulustige an. Extra Tribünen wurden für sie gebaut. - Goethe schrieb derweil an »Faust I«. In was für einem Zwiespalt muss sich ein im humanistischen Geiste aufgeklärter Mensch damals befunden haben. Hans Saller versucht, möglichst bei öffentlichen Hinrichtungen nicht dabei zu sein. Er kann nichts ausrichten gegen Hungersnöte und die Napoleonischen Kriege, bestenfalls kann er einen Bauern laufenlassen, der einen Soldaten erschoss, weil der eine Frau vergewaltigte. Der Soldat gehörte zum siegreichen französischen Heer, war aber, wie sein ganzer Trupp, Würzburger. Der dazugehörige Offizier drohte, aus Rache das ganze Dorf anzuzünden. Saller konnte ihn überreden, das nicht zu tun, zum Glück hat man sich ja in Deutsch verständigen können ...
Kommentare aus heutiger Sicht sind den Lesern überlassen. Corinna und Henry Köhlert bleiben ganz in der damaligen Zeit, gliedern sogar ihre Texte nach Tagen und Stunden. Historische Abläufe. Auch wenn Hans Sallert eine Erfindung ist - eine gelungene, so sei betont. Mit der Person des Erfurter Kommissars im Mittelpunkt lassen sich vielleicht noch weitere Krimis schreiben. Vorausgesetzt, man findet genügend Papiere, die den Hergang von Ermittlungen belegen. Sallert hat nämlich - auch das ein kurioses kulturgeschichtliches Detail - alles, was für ihn nicht mehr unmittelbar notwendig war (Steckbriefe bereits gefasster Verbrecher usw.) nicht etwa abgeheftet oder weggeworfen. Jedes überflüssige Stückchen Papier hat er gesammelt und mit nach Hause genommen, für einen bestimmten Zweck. »Er hatte nie verstanden, wie die meisten seiner Mitbürger, ohne sich den Hintern zu putzen, durch die Welt laufen konnten. Die stank doch auch so schon mehr als genug.«
Corinna & Henry Köhlert: Die Frau im Brunnen und andere Verbrechen aus Goethes lieblicher Heimat. Anderbeck Verlag. 215 S., brosch., 9,80 EUR.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/65441.not-gier-jaehzorn.html