nd-aktuell.de / 03.12.1997 / Politik / Seite 10

Hinter Glas

Tom Mustroph

Schon wenn man in den kleinen Charlottenburger Hinterhof kommt, hat man das Gefühl, einen privaten Raum zu betreten. Der Eindruck setzt sich in der Galerie fort, die zum 110. Geburtstag der Malerin Lily Hildebrandt auf geradezu intime Weise das in der Familie verstreute Werk der Öffentlichkeit zugänglich macht. Zur Begrüßung schlüpft einem alten weißhaarigen Mann das antiquierte »Grüß Gott« über die Lippen. Rainer Hildebrandt, der mittlerweile 83jährige Sohn der Künstlerin, ist sichtlich glücklich, den Großteil des Schaffens seiner Mutter in dieser mit wissender Hand gefügten Schau vereint zu sehen. Kaum vorstellbar, daß dieser Mann iden 1 tisch mit dem Kalten Krieger ist, dessen Museum am Checkpoint Charly das Berlin-Bild vieler Touristen nachhaltig prägt. Ein haßerfülltes Gruselkabinett ist es

zwar nicht, trotzdem ist die ideologische Ausrichtung deutlich vernehmbar. Das Lebenswerk von Mutter und Sohn wollen partout nicht zusammenpassen. Aber hier geht es nicht um diesen - doch gar nicht so ungewöhnlichen - Kontrast zweier Generationen. Die Frau und ihr Werk gehören in den Mittelpunkt gerückt; ganz so, wie es sich das »Verborgene Museum« auf die Fahne geschrieben hat.

Zunächst fällt die Vielfalt der Malstile ins Auge. In kurzer Zeit durchlief Lily Hildebrandt im- und expressionistische sowie kubistische Phasen und landete dann bei der Neuen Sachlichkeit. Ihr künstlerisches Zuhause für zwei Jahrzehnte wurde jedoch die Hinterglasmalerei. Diese Technik, mit der sich u. a. Paul Klee, August Macke und Neil Waiden auseinandersetzten, erhält Brillanz und Leuchtkraft der Farben in ungewohnter Intensität. Die Spannung von Konturen und Farbflächen und die präzise Komposition stehen den Mitteln und Möglichkeiten der Grafik sehr nahe. Verständlich, daß ein Teil der Avantgarde davon angetan war Hätte der Glaspoet Paul Scheerbart 1917 noch gelebt, er wäre bestimmt in Verzückung geraten über die hell vom nächtlichen Himmel strahlenden blauen Sterne des Debüts der Malerin. In der chronologischen Folge des (Euvres nimmt ihre Souveränität im Umgang mit der in Süd-

deutschland traditionellen Technik zu. Die Figuren werden mit einem feinen schwarzen Strich konturiert, die von vorn nach hinten aufgebrachten Farbschichten erzeugen eine starke Tiefenwirkung. Die meisten Arbeiten atmen südliche Leichtigkeit und Heiterkeit, besonders, wenn sie dem Topos Reise folgen. Davon setzen sich düstere Traumgesichte ab wie der »Leichenzug« oder das »Gespensterhaus«. Drei hauchzarte Frauen verharren am Fenster, den Blick wie Tschechows drei Schwestern schwermütig gen Moskau gerichtet. »Irrenhaus I und II« fangen die beängstigend färb- und leblose Atmosphäre solch einer Verwahranstalt ein, in der Lily Hildebrandt des öfteren einen Freund besuchte.

In der Hitlerzeit litt die Malerin, Fotografin und Journalistin unter Arbeitsverbot. Die im kalifornischen Getty-Museum archivierten Briefe an die nach Amerika emigrierten Freunde zeugen von der seelischen und vor allem materiellen Not, der die Familie ausgesetzt war. Nur ein Hinterglasbild entsteht in diesen zwölf Jahren. Nach dem Krieg wird sie nicht wieder künstlerisch tätig.

Dem »Verborgenen Museum« ist in Zusammenarbeit mit der Kunsthistorikerin Britta Kaiser-Schuster eine feinfühlige Ausstellung und Dokumentation gelungen. Ein ausführlicher, aber nicht erschlagender Katalog verhindert hoffentlich das neuerliche Vergessen dieser Künstlerin, die zu der ersten Frauengeneration gehörte, der sich die Tore der Akademien öffneten.