nd-aktuell.de / 16.12.1997 / Politik / Seite 16

Sportsmann durch und durch

Er gewann in Cortina d'Ampezzo als erster DDR-Sportler 1956 eine olympische Medaille im Skispringen Von Wolfgang Behrendt, 1956 erster Olympiasieger der DDR

Harry Glaß mit seiner olympischen Bronzemedaille Foto: Wolfgang Behrendt

Harry Glaß ist tot. Der einstige Skispringer, den seine Freunde »Cherry« nannten, verstarb am Sonnabend im Alter von 67 Jahren im Krankenhaus von Rodewisch an Herzversagen. Er gewann am 5. Februar 1956 in Cortina d'Ampezzo mit Bronze als erster deutscher Skispringer eine olympische Medaille und war damit erster Medaillengewinner der DDR bei Olympischen Spielen überhaupt. Ich kenne »Cherry« aus vielen persönlichen Begegnungen. Zwar sah ich ihn während der Olympischen Winterspiele 1956 selbst nicht springen, weil ich als Boxer genau zu dieser Zeit im vorolympischen Trainingslager in Kienbaum war, aber später habe ich ihn oft als Springer erlebt und fotografiert. Er war ein begnadeter Stillst, der den damals dominierenden Finnen und Norwegern in nichts nachstand. Er sprang als einer der ersten im sogenannten »Fisch-Stil«, also mit den Armen nach hinten und nicht nach vorngestreckt. Für viele war er der eleganteste Springer seiner Zeit.

Zuletzt trafen wir uns Mitte 1995 in seiner Heimatstadt Klingenthal. Dort lebte er mit seiner als Ärztin tätigen Frau in den letzten Jahren ziemlich zurückgezogen. Damals wie heute schätzte ich an ihm, daß er ein Sportsmann durch und durch war Eine ehrliche Haut, der, allgemein als wortkarg bekannt, sich aber mit seiner Meinung nicht zurückhielt. Der sonst so ruhige Mann, den kaum etwas aus der Fassung bringen konnte, fuhr beinahe aus der Haut, als er mir vom Abriß der Klingenthaler Aschbergschanze erzählte. Harry Glaß hatte immer gehofft, daß es einen Schanzenneubau geben würde. Er hätte sich an die Spitze einer landesweiten Spendenaktion gestellt.

Zu seinen schönsten Erinnerungen, die er als Skispringer des SC Dynamo Klingenthal mit der olympischen Bronzemedaille, dem vierten Rang bei den WM 1958 in Lahti und Platz fünf bei der Skiflugwoche 1957 in Oberstdorf sowie den vier DDR-Meistertiteln zwischen 1954 und 1958 verband, gehörte die Welle der Sympathie, die er nach seinem Sturz bei der Vierschanzentournee 1960 auf der Bergisel-Schanze in Innsbruck erfuhr Er wollte zum zweiten Male Olympia erleben, fühlte sich besser drauf als Helmut

Recknagel. Der Sturz zerstörte alle Pläne. »24 Wochen lang lag mein Bein in Gips. In dieser Zeit«, so erzählte er, »bekam ich Telegramme, Briefe und Blumen in Hülle und Fülle ins Krankenhaus. Unbekannte Leute munterten mich auf. Das war schon beeindruckend.«

Harry Glaß widmete sich später als Trainer dem Nachwuchs und war eine Zeitlang Cheftrainer in Klingenthal. Er führte seinen Namensvetter Henry Glaß 1976 zu Olympiabronze und Mathias Buse zwei Jahre später in Lahti zum WM-Titel. Nach seinem Herzinfarkt 1982 kehrte er bis zu seinem Ausscheiden nach der Wende wieder zum Nachwuchs zurück. »Die Pumpe«, so sagte er ohne Resignation, »will schon seit langem nicht mehr so richtig.«