Die poetischen Texte des Bandes seien in den vergangenen zehn Jahren entstanden, wird auf der letzten Seite erklärt. Also zwischen 1987 und 1997 Die Gedichte sind nicht datiert, doch glaube ich zu erkennen, was »vorher« und was »nachher« geschrieben worden ist. Eine Gegenüberstellung, gar ein Kontrast war allerdings nicht beabsichtigt, denn jeder einzelne Text stimmt absolut für den besonderen Augenblick, dem er seine Entstehung verdankt.
Wobei dieses »Stimmen« ja für den Dichter das Problem ist, weil es um komplexe, zunächst einmal höchst persönli-
che Botschaften geht. Kann es gelingen, daß der Lesende genau das aufnimmt, was der Schreibende im Sinne hatte? Wenn mehr hineininterpretiert wird, nun gut. Schlimm ist's, wenn der Leser die Achseln zuckt: Versteh ich nicht oder Naja, was soll's. Dabei hat ihm der Dichter doch sein Herz ausgeschüttet, das voll war von Gefühlen und Gedanken.
Solch Verständigungsproblem gibt es hier freilich nur selten einmal in der lyrischen Prosa, in den Gedichten gar nicht. Die sind ausgefeilt, treffen genau und weit. »... wir reden von fern, über gestern,/ die Schuhe blank, vergessen/ das Gleichmaß des suchenden Schritts./ Der Habicht, den das Auge kennt,/ er fliegt nicht mehr ...« Oder nur zwei prägnante Zeilen wie diese: »wir streiten noch immer in verrauchten kneipen/ worte gleich
münzen, die wir einst auf geleise legten: blech«.
Es ist die Erfahrung vieler (nicht aller) in Ostdeutschland, die Ekkehard Schulreich in Worte faßt. Er wurde 1968 geboren. Ältere behaupten mitunter, in jenem Jahr seien endgültig alle Chancen für einen Neuanfang in der DDR vertan gewesen. Jüngere hatten ein Recht auf die Hoffnung, sie könnten mit ihren Idealen noch etwas bewegen. Doch als sie freie Bahn bekamen, da war es zu spät.
Und nun? Es kommt einiges zusammen (auch ganz Privates), was bitter macht. »Und plötzlich stehst du allein und es regnet.« Schon das fehlt: Zugehörigkeit. »Die Männer auf der Bank schluckten Blechbier.« Oder- »... die tage/ fallen dem laub entgegen/ treiben auf gläsern, rührt/' der' fihger, als wäre es punsch'.«
»Eine kunstvoll ungeschliffene Poesie«, nennt Guntram Vesper in einer kurzen Nachbemerkung Ekkehard Schulreichs Schreiben. »Vorsicht, Verletzungsgefahr! Aber will, wer Gedichte liest, nicht wenigstens geritzt werden ...« Indes: Wer kennt Verletzung nicht. Das ist ja nun überhaupt nichts Besonderes mehr im Osten, daß der Frust die Feder führt. Wenigstens zum literarischen Ich werden, wenn man schon sonst nichts zählt. Man redet von der Welt und meint die eigene Bedeutsamkeit. Eine Pose, bedauernswert und verständlich - Ekkehard Schulreichs Texte sind frei davon, weil er wahrscheinlich genügend selbstkritisch ist und immerhin noch jung. Ein ernster und sensibler Beoachter, der sich und uns nichts vormacht. Der Schmerz kommt aus Beteiligtsein. »Wer nur zu Gast ist, den greift es nicht an. Dazu aber zähl ich mich nicht.«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/700547.allein-und-es-regnet.html