nd-aktuell.de / 12.05.2005 / Politik
Land unter für De Blauwe Stad
Kampf gegen sozialökonomischen Abstieg in den Niederlanden: Dem Meer abgerungene Polder werden ab heute wieder geflutet
Udo van Lengen, Amsterdam
Im Osten und Norden der Niederlande werden immer mehr Polder geflutet. Die Landwirtschaft lohnt sich nicht mehr und die Menschen im pulsierenden Westen sehnen sich nach ruhigen Naturoasen.
Einen Augenblick schaut Harry Steentjes durch das Bürofenster nach draußen. Eine Regenböe peitscht gegen die Scheibe. Vom Dollart, der Nordseebucht zwischen Groningen und Emden, weht eine ungnädige steife Brise herüber, die an den Jalousien rüttelt. Direkt hinter dem knallrot lackierten Fenster erstreckten sich bis vor kurzem Steentjes Äcker. Mais für seine 85 Kühe und 60 Jungtiere baute er dort an. Eigentlich hätten in diesen Tagen die ersten grünen Blätter den fruchtbaren Boden durchbrechen müssen. Doch Mais wird hier nicht mehr wachsen. Stattdessen umwabert schwarzer Schlick die wenigen rauen Pflanzen. Steentjes riskiert nur einen kurzen Blick.
Von Herrenbauern
und Freizeitskippern
Seit jeher gelten die Niederlande als Hort findiger Wasserbauer, die bis heute mittels Deichen, Kanälen und pittoresken Schöpfmühlen Land trockenlegen, um mehr Platz für Landwirtschaft, Wohnungen und Industriegebiete zu schaffen. Im Oldambt, einer Gemeinde im Nordosten, direkt an der Grenze zu Deutschland, passiert nun genau das Gegenteil. Wasserbauingenieure arbeiten daran, Land wieder unter Wasser zu setzen, das in jahrhundertelanger Arbeit der Nordsee abgerungen wurde. Ihre Vision nennen sie »De Blauwe Stad« (Die Blaue Stadt). Sie wird knapp 20 Quadratkilometer umfassen. Nicht nur die Ländereien von Harry Steentjes müssen dem Projekt weichen, sondern sämtliche Bauernhöfe, Landstraßen und einige Dutzend Eigenheime. Der See selber wird acht Quadratkilometer umfassen. Die Bagger, die sich gerade durch Steentjes Maisfelder wühlen, müssen nur an wenigen Stellen die schwarze Erde abtragen. Denn der Großteil des Gebietes liegt unterhalb des Meeresspiegels und läuft langsam voll, sobald man die Entwässerung einstellt.
Das wird heute passieren. Die Wasserbauer sind fertig, so dass Königin Beatrix kommen kann. Ähnlich feierlich wie ihre Vorgängerinnen Hochwasserschutzprojekte einweihten, wird sie mit einem simplen Knopfdruck die Pumpen im Schöpfwerk Hongerige Wolf abschalten. Sofort wird der Wasserspiegel in den Poldern zu steigen beginnen. Ein gutes Jahr lang. Bis die umliegenden Siedlungen Winschoten, Midwolda, Oostwold, Finsterwolde und Beerta allesamt am Rande eines Sees liegen, der das Zentrum der blauen Stadt sein wird. Am Seeufer und auf kleinen Inseln sollen ab Ende 2006 etwa 1500 Wohnungen entstehen. Der Rest wird Naturschutzgebiet.
Im Oldambt trotzten die Menschen mehr als 450 Jahre lang dem Dollart Polder für Polder ab. Die Deichlinie verkürzen hieß, in Sturmflutzeiten weniger Deich verteidigen zu müssen. Und die schlickig-salzigen Wattflächen entpuppten sich als äußerst fruchtbare Böden. Der schwere, lehmige Dollartklei machte die Oldambter Bauern zu den reichsten der Niederlande. Ihre palastähnlichen Häuser im klassizistischen Stil brachten ihnen den Beinamen Herrenbauer ein. Noch heute stützen römische Säulen die Giebel der Oldambter Bauernhäuser. Schlossparkartige Gartenanlagen sollten ebenso wie die uferlosen, rechtwinkligen Kornfelder die schöpferische Allmacht der Oldambter Herrenbauern unterstreichen. Aber der Wohlstand ist Geschichte.
Das neue Konzept heißt: Wasser als Bündnispartner im Kampf gegen den sozialökonomischen Abstieg. Wo vor 30 Jahren die fahlgelben Töne der Kornfelder dominierten und vor 10 Jahren die Nachfahren der Herrenbauern von Bracheprämien aus Brüssel lebten, sollen morgen strahlend weiße Yachten von neureichen Städtern aus dem niederländischen Westen umherschippern. Dafür wurden die ehemaligen Bewohner des Gebietes bereits entschädigt und umgesiedelt. Für Steentjes eine harte Erfahrung: »Ich hing an meinem Lebenswerk. Aber als feststand, dass De Blauwe Stad kommen würde, meinte ein Bekannter zu mir: "Schau nach vorne und sieh zu, dass du was vom Kuchen abbekommst."« Außerdem, so der 45-Jährige, sei es einem Bauern, der weitermachen wolle, egal, wo er Grund und Boden bearbeiten könne. Steentjes ging dennoch nicht nach Kanada, obwohl das Land wie die Ukraine und Ostdeutschland schon seit Jahren expansionswillige niederländische Bauern anzieht. Er kaufte sich von der Entschädigung und einem Kredit einen größeren Hof im Nachbardorf Westerlee. »Der alte Besitzer ist nach Alberta ausgewandert«, sagt Steentjes.
Auf dem Tisch des Büros von Marie-Lou Gregoire liegt eine Landkarte der »Blauen Stadt«. Gregoire ist für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig und gehört damit zu den Botschaftern der neuen Zeit im Oldambt. Eine schwierige Aufgabe. Vor allem, weil das Land während der Umbaumaßnahmen verwahrlost. Denn nicht nur Häuser und Straßen müssen verschwinden. Kanalisation, Drainage, Gasrohre, Stromleitungen, Wasserleitungen - sämtliche Infrastruktur wird aus dem Boden gerissen. Die wenigen Bäume wurden gefällt, die Entwässerung wurde heruntergefahren. Nun fault das Gras im steigenden Wasser. Die meisten Landwirte können dies Tohuwabohu nicht mit ansehen. Steentjes meint: »Ich finde Natur schön, wenn alles säuberlich an seinem Platz steht.« Das Projekt eröffne der Region eine rosigere Zukunft, hält Gregoire dagegen: »Der Kornanbau lohnt nicht mehr. Das Land wird nicht mehr gebraucht und die Leute ziehen dahin, wo sie Arbeit finden. Wir wollen dieser Region einen nachhaltigen ökonomischen Impuls geben.«
»Die Versuche, hier Industriebetriebe anzusiedeln, sind allesamt gescheitert«, erzählt die Öffentlichkeitsreferentin weiter. »Die Provinz Groningen und im speziellen ihr östlicher Teil sind seit Jahren Schlusslicht in der niederländischen Wohlfahrtsstatistik. Hier haben die Leute im Landesdurchschnitt die geringste Bildung und sind häufiger arbeitslos.« Daher brauche man den Wechsel, weg von der Landwirtschaft hin zu Erholung und Natur. »Groningen, Friesland, Drenthe haben Zukunft als riesige Center Parcs für den Rest der Niederlande. Es ist hier grün, ruhig, es gibt genug Platz und viel Wasser.« Durch De Blauwe Stad kehre der Erfolg in die Region zurück, meint Marie-Lou Gregoire. Mitte 2005 sind die ersten Musterhäuser fertig. Aus dem ganzen Land gebe es schon Anfragen von Kaufwilligen, denn »wo kann man in unserem dicht besiedelten Land noch so royal am Wasser wohnen?«
Vor dem quietschroten Hauptquartier der Blauen Stadt warten Landwirtskollegen auf Steentjes. Zusammen wollen sie den Stand der Bauarbeiten in Augenschein nehmen. Sie steigen in drei graue Geländewagen und rollen die asphaltierte Jaarfkelaan hinunter. Kleine rote Straßenlaternen säumen den Weg. Gepflegter grüner Rasen wächst rund um das Bürogebäude mit dem dreistöckigen Aussichtsturm. In dem von schweren Raupenfahrzeugen durchfurchten Feld nebenan gräbt ein Bagger eine Fahrrinne für die vorhergesagten Yachten. Südliche Grenze der blauen Stadt ist die Autobahn Bremen-Groningen. Am Straßenrand teilen große Buchstaben dem hastigen Reisenden mit, dass hier De Blauwe Stad entsteht. Wer ein bisschen mehr Zeit mitbringt, erkennt auf den Werbeschildern fünf unterschiedlich verdichtete Wohngebiete, Dorp, Wei, Park, Zuidoosthoek und Riet. Ein Haus im Dorp kostet 300000 Euro aufwärts, eine Eremitage im Riet-Archipel um die 750000 Euro. »Da siedeln dann die Herrenbauern unserer Zeit: Beamte und Manager«, knurrt einer von Steentjes Kollegen.
»Das will mir nicht
in den Kopf«
Überglücklich scheinen sie nicht zu sein, die Landwirte. Auch wenn es gar nicht so schlecht klingt, was die Öffentlichkeitsreferentin über die Zukunft erzählt: Steentjes ist zuallererst Bauer. Er will säen und ernten. »Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bei uns alles daran gesetzt, jeden Quadratzentimeter Boden effektiv mit Nahrungsmitteln zu bebauen. Und auch heute noch wird in weiten Teilen der Welt gehungert. Und wir fluten unsere fruchtbarsten Böden. Das will mir nicht in den Kopf!«
Ein letztes Mal befahren Steentjes und seine Kollegen die alte Landstraße von Winschoten nach Oostwold. Die Asphaltdecke ist bereits herausgerissen. Der noch leidlich intakte Unterbau bewahrt das Auto davor, nicht völlig im Schlick zu versinken. Die Landwirte beschäftigt jedoch mehr die Frage, was De Blauwe Stad für sie tatsächlich verbessern wird. Steentjes: »Wichtig ist, dass die Neuen bei uns ihr Geld ausgeben. Es ist gut, dass die Projektorganisation von den Neusiedlern verlangt, das ganze Jahr hindurch hier zu wohnen.« Doch Steentjes Kollegen fragen sich, wie das durchgesetzt werden soll und wo die Zuzügler arbeiten sollen. Denn das Pendeln in die Städte des Westens sei zu zeitaufwendig. Der Fahrer des Geländewagens meint: »Man muss hier erst für Arbeitsplätze sorgen und dann für Erholungsmöglichkeiten.«
Die letzte Flut
über das Oldambt
Zwei weitere Projekte in den Niederlanden verfolgen ein ähnliches Konzept, sie liegen jedoch deutlich näher an den großen Städten und Wirtschaftszentren. 35 Kilometer vom Oldambt entfernt soll sich die »Meerstad« als neuer Stadtteil von Groningen aus dem Wasser erheben und im äußersten Norden der Provinz Noord-Holland, eine Autostunde von Amsterdam entfernt, soll die einstige Insel Wieringen wiederentstehen, indem man sämtliche Polder zwischen Watten- und Ijsselmeer unter Wasser setzt. Steentjes übt sich im Optimismus: »De Blauwe Stad ist mehr als ein Villenviertel. Es soll ja auch ein großes Naturschutzgebiet geben. Dort werden sicherlich Landwirte gebraucht, die ab und an die Wiesen mähen oder ihre Kühe dort grasen lassen.« Die Initiatoren denken nicht mehr an Erfolg oder Misserfolg. Sie haben beschlossen, dass heute die letzte, ewige Flut über das Oldambt kommen soll.
Am Wochenende nahmen rund 6000 Anwohner, Umgesiedelte und Neugierige im strömenden Regen Abschied von ihrem vertrauten Landstrich. An vielen Stellen des fünf Kilometer langen Wanderweges versanken sie bis zu den Knöcheln im Matsch. Mitten im zukünftigen See hatten die Organisatoren einen »wensput« - einen Wunschbrunnen aufgestellt. Er sah aus wie eine Schatzkiste. Langsam füllte sich die Kiste mit Gedichten, Fotos und Andenken an die untergehenden Polder. Die Schatzkiste wird in der Mitte des Sees versenkt werden. Sie verschwindet mit den Poldern und deren Geschichte. Und macht Platz für die neue Zeit.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/71747.land-unter-fuer-de-blauwe-stad.html