Was ist von Jakob Gens zu halten, Jude und Chef des Wilnaer Ghettos, der jovial mit der SS feilscht und erreicht, daß - unter Aufsicht der jüdischen Ghettopolizei - nicht 2000, sondern lediglich einige hundert »Selektierte« erschossen werden? Und: Ist das Ghetto ein Ort für Theater, für Tango-Rausch und frivoles Kabarett? Ja, sagt Gens, das hält unsere Kultur am Leben, unseren Geist.
Darf der Überlebenswille eines Volkes bis zur Selbsterniedrigung, bis zur Opferung der Schwachen gehen? Darf er alle Grenzen überschreiten? Nehmen die Unterdrückten dann nicht irgendwann Züge
ihrer Peiniger an und werden mit schuldig? Um diese Fragen kreist das Stück »Ghetto« des israelischen Autors Joshua Sobol, das kürzlich am Theater Hof in einer Inszenierung von Michael Blumenthal Premiere hatte.
»Ghetto«, das dem Autor zum Teil herben Tadel aus den eigenen Reihen einbrachte, gibt keine abschließenden Antworten. Immerhin, und zwar ausgerechnet durch die Sängerin Chaja (in jeder Hinsicht eindrucksvoll gestaltet von Karen Schweim), deutet sich am Ende eine Hinwendung zum aktiven Widerstand an. Und in der Schlußszene, als der SS-Offizier Kittel (ein grauenhaft guter Ralf Hokke) nicht mehr zum Alt-Saxophon, sondern zur MPI greift, werden alle Illusionen zerstört, ein barbarischer Feind kön-
ne durch kulturelle Vielfalt beeindruckt werden.
Auf der Hofer Bühne läuft über drei Stunden ein sorgfältig inszeniertes Spiel ab, bei dem nie der schlimme doppelte Boden des Geschehens in Vergessenheit gerät: Wenn der blondgescheitelte Kittel mit den jüdischen Schauspielern George Gershwins »Swanee« jazzt oder unter Jubel einen Kosakentanz aufführt, stets bleiben die große Lüge und die Gefahr präsent - in einem furchtsamen Blick zur Seite, in zwei, drei Personen, die für Momente erstarren und nicht mehr mittun.
Hut ab vor dem kleinen Hofer Schauspielensemble: Es bietet einmal mehr eine bewundernswerte Einheit von Wort, Musik und Tanz, pralles, lebensvolles Theater auf dem Theater, das die erschütternde menschliche Dimension ge-
bührend ins Rampenlicht rückt, die jenseits des tiefsinnigen Streits um Kulturund Überlebensstrategien existiert - und ihr Recht fordert. Ohne diese stille Botschaft wäre »Ghetto« vermutlich ein schwer zu ertragendes Stück.
Der Herrenmensch Kittel, der zu allem Unglück auch noch ein sensibler Ästhet ist, der jüdische Geschäftsmann Weißkopf, der aus einem kleinen Schneider zu einem großen Narren wird, weil er an die Allmacht des Geldes zu glauben beginnt und von »seinen Deutschen« spricht, aber auch Gens, der manchmal allzu entschlossen über Leichen geht sie haben in Hof zum Glück nicht das letzte Wort. Denn: Wahrheit ist gut, aber es darf nicht so viel sein, daß es auf der Bühne davon vollends dunkel wird.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/721725.wahrheit-aber-nicht-bis-zum-dunkel.html