nd-aktuell.de / 21.08.1998 / Politik / Seite 12

Zeit-Spuren

Sabine Neubert

In das dichte, fast allzu dichte und verworrene Erzählwerk hat der Autor Aras Ören einige Gedichte eingefügt. In einem davon heißt es: »Meine Biografie ist eine Uhr mit zersprungener Feder/ in der Westentasche eines Unbekannten ....« Von diesem Satz her ist das Buch besser zu verstehen. Der Autor und Ich-Erzähler ist expressis verbis ständig auf der Suche nach der Zeit, nicht nach einer vergangenen, verlorenen, sondern nach der gegenwärtigen Zeit im gegenwärtigen Berlin. Er versucht, der Gegenwart auf vielfältige Weise, zumeist aber unterwegs in Kneipen und Straßencafes rund um Berlins Mitte, »auf die Spur« zu kommen. Um sie zu begreifen, setzt er ein Erzählwerk aus Erinnerungen an frühere Jahrzehnte in der geteilten Stadt in Gang. Einen Sinn dieses hektischen, unruhigen Lebens und Erinnerns aber findet der Dichter nur sehr begrenzt und ganz am Ende im Kapitel »Die stehengebliebene Zeit bewegt sich doch«. Hier erst wird deutlich (und das Buch auch rund), warum der »Unerwartete Besuch« eines jungen Mädchens diesen Erinnerungsstrom ausgelöst hat. Von hier aus bekommt für den Erzähler auch Zukunft vagen Sinn.

Zum anderen und wiederum Bezug nehmend auf die zitierte Gedichtzeile: Das Buch ist nur aus der Biografie des Autors verständlich. Aras Ören, 1939 in Bebek-Istanbul geboren, lebt seit den

60er Jahren in Berlin und arbeitet seit 1974 dort als Redakteur (SFB) und freier Schriftsteller. Das Buch spiegelt dieses Innen- und Außensein, Fremdheit und Engagement, eine scharfe Beobachtungsgabe und bittere Ironie. Die Geschich'te der geteilten »Frontstadt« und ihrer Menschen, die Mauer, die Schlupflöcher und dubiosen Geschäfte, die »stillstehende Zeit« im Osten und die »wie-

dergekehrte Zeit« mit dem sozialen Aufstieg der kleinen Gauner im Westen stellen sich so schrecklich banal dar, wie sie nur ein Beobachter aus einem anderen Land und aus ganz anderer Tradition und Kultur erleben kann oder konnte. '

Und damit sind wir beim Dritten: Unbekannt, mit Zeitmesser in der Tasche, ist der Dichter sich selbst, und zugleich ist jeder Mensch, der ihm begegnet, für ihn der Unbekannte, ganz gleich, ob es der Anonyme an der Straßenecke oder ob es der ihn jahrelang bespitzelnde Ali Bayrak ist. Fremd bleiben dem Dichter eigentlich auch die Frauen. Von Begegnungen mit Frauen wird sehr viel und -

teilweise auch abgeschmackt pornografisch - erzählt. Alle diese Beziehungen verdichten sich zu der Erinnerung an eine Ostberliner Plattenbaubewohnerin und Literaturfreundin namens Dorothea (warum der Name?). Insgesamt entsteht eine dralle Erinnerungscollage an Mauerbau, Menschenhandel und Menschenjagd in Kreuzberg, an Ostberliner Pioniere und Westberliner Pressebälle mit Walter Scheel und nerzbehangenen Neureichen. Das alles gleitet leider streckenweise in Boulevardpresse-Niveau ab und hat dann, wenn überhaupt, den Sinn, zu zeigen, wie mies vieles gewesen ist (und noch ist).

Zwei grandiose Kapitel, bzw Bilder, Visonen oder Träume, bzw Alpträume aber entschädigen den Leser. Das eine ist voll von orientalischem Duft, das andere von widerlichem Gestank. So kann nur einer erzählen, der aus einer reichen Erzähltradition kommt. Da gibt es eine wahnwitzige Entführungsgeschichte, Traum und Alptraum zugleich, mit labyrinthischen Gängen und dunklen Räumen, Zauberhemden und Turbanen, Suren und Sultanen. Märchenhaft geht es in dem anderen Kapitel nicht zu, aber apokalyptisch. Der Dichter hat in der Nacht der Maueröffnung die Vision von Berlin rund um den »Großen Stern« als einer »riesengroßen Latrine«, eines antiken Klos, zu dem die Menschen aus allen Himmelsrichtungen strömen. Das kann man nun finden, wie man will, aber es ist großartig erzählt. Duft und Gestank, Schönheit und Widerwärtigkeit sind in dem Buch. »Das Wort reißt jede von ihm selbst erbaute Zuflucht ein.« So heißt es im letzten Gedicht.