Die Brandt ist mit dem Schwerd zum Todt zu bringen und dieses Urtheil sey fordersamst zu vollziehen.« So lautete im Januar 1772 das Urteil der »Syndici« des Inquisitionsgerichts in Frankfurt (Main) über die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt. Die Vollstreckung erfolgte auf dem Frankfurter Roßmarkt, wenige Schritte von der Gasse Im Hirschgraben entfernt, in der die Familie Goethe wohnte. Nach eigenem Bekennen hat der junge Studiosus der »Juristerei« Wolfgang dem Blutgericht beigewohnt. Er soll von dem Schicksal der jungen Delinquentin so beeindruckt gewesen sein, daß er ihr später als »Gretchen« im »Faust« ein dauerhaftes literarisches Denkmal setzte.
Die leibhaftige Susanna Margaretha Brandt hatte 1771 als Dienstmagd im
Frankfurter Gasthaus »Zum Einhorn« gearbeitet. Ein durchreisender holländischer Kaufmannsdiener, dessen Name nie bekannt geworden ist, hatte sie dort mit Wein betrunken gemacht und dann geschwängert. Das so gezeugte Kind kam im Verborgenen, in einer Waschküche, zur Welt. In Angst vor der Schande als ledige Mutter erwürgte Susanna Margaretha in »Panik und Raserei« das Neugeborene und versteckte die Leiche in einem Stall unter »Heu und Stroh«.
Als die Untat entdeckt wurde, versuchte die Frau ihr Heil in der Flucht, wurde aber am 3. August 1771 verhaftet und bis zur Schwurgerichtsverhandlung am 9 Januar 1772 im Katharinen-Turm gefangen gehalten. Sie habe, so wurde überliefert, »Tag und Nacht Gott um Vergebung für ihre schwere Sünde« gebeten. Das Schwurgericht kannte jedoch weder Gnade noch wollte es mildernde Umstände berücksichtigen. Ganz anders denken da heutige Rechts-
sprecher Der Prozeß gegen »Gretchen« wurde wieder aufgerollt. In dem fiktiven Revisionsverfahren fungierten der Richter am Hessischen Staatsgerichtshof, Roland Kern, als Richter, der Leitende Oberstaatsanwalt Hubert Harth als Ankläger und der bekannte Strafverteidiger Rüdiger Volhardt als Anwalt der Susanna Margaretha. Zu dem spektakulären Prozeß in 2. Instanz fand man sich im Frankfurter Stadtarchiv zusammen. Der Staatsanwalt plädierte nicht auf Mord, sondern auf Totschlag in minderschwerem Fall. Eine dreijährige Freiheitsstrafe sei dafür angemessen. Der Verteidiger Volhardt forderte ein psychiatrisches Gutachten, da seiner Meinung nach seine Mandantin absolut schuldunfähig sei. Der Richter Kern verkündete am Ende eine zweijährige Haftstrafe auf Bewährung, verbunden mit der Auflage, die Verurteilte müsse sich in einer Grundschule die Kunst des Lesens und Schreibens aneignen.
Dem »Gretchen«, das irgendwo au-ßerhalb der Frankfurter Hauptfriedhofsmauer auf dem Schandacker verscharrt wurde, kommt dieses Revisionsurteil zwar nicht mehr zugute. Aber es läßt sich durchaus vermuten, daß den Herrn Geheimrat Wolfgang von Goethe die Gerichtsentscheidung anno '98 als ein angemessener Beitrag zu seinem bevorstehenden 250. Geburtstag erfreuen würde.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/730105.den-geheimrat-von-goethe-wuerde-es-freuen.html