nd-aktuell.de / 02.12.1998 / Politik / Seite 9

Aufmüpfige Lieder

Christine Wagner

Mitte der 70er Jahre griff das Folkfleber von der Bundesrepublik auf die DDR über Sangesfreudige entdeckten Hannes Wader, Zupfgeigenhans'l und irische Musik. Nach einer kurzen Zeit des Nachsingens entwickelten Gruppen wie Folkländer, Liederjahn oder Brummtopf und Individualisten wie Stephan Krawczyk einen eigenen Stil. Andere pflegten einfach ihren Spaß an Gesellen-, Handwerker-, Trink- und Kriegsliedern aus vergangenen Jahrhunderten oder spielten zum Folkstanz auf. Zu jenen, die mit dem Folksong politisch-künstlerischen Anspruch verbanden, gehörte »Wacholder« aus Cottbus. Fast als einzige hat die Gruppe das Abebben der Folkwelle in den 80er Jahren überlebt. Glücklich darüber konnten Scarlett Seeboldt, Matthias Kießling und Ko. J. Kokott in diesem Jahr ihren 20. Geburtstag feiern.

Spaß am Provozieren fanden die Cottbusser Folkloristen von Anfang an. Nach einem spontanen Auftritt zu einem lustigen Studentenfasching beschlossen die

sechs Musikanten zusammenzubleiben. Einer kurzen Zeit des Nachspielens der überall bekannten Folkhits folgte das Schreiben von Titeln. Schnell entwickelten die Musiker einen eigenen Stil und schulten ihre Fähigkeiten, um mit geschickt ausgewählten Folkliedern die politisch Mächtigen herauszufordern. »Durch das Mäntelchen war der Transport von Inhalten leichter, als wenn wir direkt Kritik am System geübt hätten«,

sagt Scarlett. »Wenn wir in den Liedern gegen den König wetterten, wußte natürlich jeder, wer gemeint war Wir aber hatten ein gutes Argument. Das sind Texte aus alten demokratischen Liederbüchern... Denen die Zunge rauszustrecken und Bäh! zu rufen, machte unheimlichen Spaß. Wir waren aufmüpfig, ohne uns was zu verbauen«, erklärt Scarlett die damalige Taktik.

Obwohl die Folkszene weitgehend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden ist, hat Wacholder nach wie vor gut zu tun. Vielleicht, weil die Gruppe längst das enge Folkkorsett lockerte. Davon zeugt auch ihr sechstes Album »Unterwegs« (John Silver Production) als muntere Reminiszenz an die unzähligen Touren und Konzerte. Da vertragen sich alte Lieder im modernen Folk-Stil durchaus mit den rockigen Klängen von E-Gitarre und Keyboards. Jürgen Ehle von Pankow hat die Platte mit hörbarem Vergnügen produziert. Auch Uwe Hassbekker (Silly), Angelika Weiz und Prinz Tobias Künzel hatten Spaß am Ausflug in benachbarte Gefilde. Hinzu gesellten sich Folkleute wie Thomas Loefke (Norland Wind) an der keltischen Harfe, die Sands Family aus Irland sowie der Jams-Kontrabassist Waki Waterstradt.