nd-aktuell.de / 13.03.1999 / Politik / Seite 13

Freie Bürger sind nicht automatisch mündige Bürger

Prof. Dr Fritzsche, man soll einen Wissenschaftler nicht zu pauschalen Urteilen verführen, aber' Wenn Sie durch Ihren Wohnort Braunschweig gehen und einen Vergleich wagen mit Ihrem Arbeitsort Magdeburg - wirken Menschen im Osten gestreßter?

Diese zweckgerichtete Verallgemeinerung trifft insofern zu, als zum Beispiel sehr viele, die hier in Magdeburg studieren, in der Familie oder ferneren Verwandtschaft jemanden haben, der von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Auch die Studenten selbst...

? Sie bilden hauptsächlich Politiklehrer aus.

Ja. Auch unter den Studenten selbst gestehen viele ihre Schwierigkeit, sich mit den neuen Verhältnissen zurechtzufinden. Der Streß mit der Vielheit in der Gesellschaft, mit der Vielfalt der Lebensstile und -Orientierungen sowie der Weltanschauungsangebote ist im Osten noch sehr ausgeprägt.

? Was ist für Sie eigentlich Streß?

Streß ist für mich das Gefühl, etwas nicht zu schaffen, einer Anforderung nicht gewachsen zu sein. Damit dieses beängstigende Gefühl entstehen kann, müssen zwei Dinge zusammenkommen: zum einen die Herausforderungen, die die Gesellschaft an die Menschen heranträgt, und. dann das unterschiedliche Vermögen der Betroffenen, damit umzugehen. Streß entsteht also nie bloß aus einem Zuviel an gesellschaftlichem Druck, sondern erst, wenn die Bürger zu der Einschätzung kommen: Das packe ich nicht, das ist mir zu riskant oder zu undurchschaubar. Die Folge davon: Man sucht Auswege aus der Überforderung bei denen, die angeben, einfache Lösungen zu kennen oder neue Sicherheit verleihen und auch Ohnmachtsgefühle in Macht verwandeln zu können.

? Sie sprechen von sozialem Streß, aber der trifft doch nicht nur für Ostdeutschland zu.

Natürlich nicht. Der soziale Streß, auf den ich aufmerksam machen will, ist eine Folge der politischen Umbrüche und des beschleunigten sozialen und wirtschaftlichen Wandels, der die Bürger in vielen Gesellschaften herausfordert. Aber einige Probleme sind im Westen eben schon bekannter als in Ostdeutschland. Beispielsweise haben die Westdeutschen seit langem gelernt, mit dem Phänomen Arbeitslosigkeit umzugehen. Sie gehörte als bittere Möglichkeit zum System, man ist darauf gefaßt. Die Unsicherheit ist ein organischer Teil des Planungskalküls für das eigene Leben.

? Gesellschaftlicher Wandel überforderte die Menschen immer. Das ist in unserer Zeit nicht neu.

Dahinter steckt ja die Frage, ob es gerechtfertigt ist, diesen neuen Begriff »Streßgesellschaft« einzuführen. Natürlich gab es auch früher soziale Streßphänomene. Eine der größten Streßgesellschaften der jüngsten Zeit war die Weimarer Republik. Sie ist an systematischer Überforderung der Politiker und Bürger zusammengebrochen. Aus Angst floh man vor der Freiheit - hinein in die autoritäre Lösung. Trotzdem finde ich es gerechtfertigt, den Begriff »Streßgesellschaft« gerade für uns heute einzuführen. Denn der Zuwachs an individueller Freiheit vollzog sich noch nie so ungehemmt - aber Freiheit bedeutet eben nicht hur Entlastung von Vorschriften und fesselnder Bindung, sondern zugleich Zunahme von Verantwortung. Ich muß mich als einzelner immer öfter fragen: Wie entscheide ich mich? Ist es richtig, was ich jetzt tue? Die zu bejahende Freiheit der Entscheidung ist so groß wie die damit verbundene Belastung. Freiheit kann in der Folge als Bedrohung erlebt werden.

? Sie sagen, es gebe unter den Bürgern eine stark ungleiche Verteilung von Kompetenz und Ressourcen, mit beschleunigtem und vertieftem Wandel umzugehen.

Friedrich Schorlemmer hat einmal treffend folgendes beobachtet: Am Anfang herrschte im Osten überschäumende Sehnsucht nach der Freiheit, plötzlich aber kippte diese Sehnsucht um in eine Angst vor der Freiheit. Man mußte nun selber für das geradestehen, was früher Kollektive klärten. In dem Zusammenhang ärgerte ich mich über das schnellschüssige Denken mancher Kollegen. Zunächst hatten auch sie diese »friedliche Revolution« in der DDR und aus der DDR heraus gefeiert, und sie konstatierten mit anerkennendem Staunen, in welchem Zeitraffertempo doch die Ostdeutschen Demokratie lernten. In einschlägigen Fachzeitschriften galt der Ex-DDR-Bürger als Beleg dafür, wie man sich in einer beschleunigten geschichtlichen Phase auch beschleunigt demokratiefähig erweisen kann. Dann aber, als Ostdeutsche Anpassungsprobleme bekamen, traf sie plötzlich der Generalverdacht des unveränderten autoritären Charakters. Es wurde übersehen, daß dieses gestreßte Verhalten eine Begleiterscheinung der freien Gesellschaft selbst ist.

? Der freie Bürger - überfordert durch Freiheit.

Diejenigen, die in der Freiheit nur die Risiken und nicht die Chancen sehen oder sich von den Freiheiten der anderen bedroht fühlen, werden Freiheit als Streß erleben. Sie sind dann geneigt, die Freiheit anderer beschränken zu wollen oder die Freiheit überhaupt gegen neue Sicherheiten einzutauschen. Sozialer Streß macht anfällig für Intoleranz und für autoritäres Verhalten, das gilt für Westdeutsche ebenso wie für Ostdeutsche. Allerdings folgt daraus auch logisch, daß dort, wo der soziale Streß größer ist, die Anfälligkeiten für antidemokratisches Verhalten zunehmen. Aber nochmals: Dies folgt nicht aus autoritärer Vergangenheit, sondern aus stressiger Gegenwart.