Tschapajew starb 1919 als Kommandeur einer Schützendivision. Nach der offiziellen Version ertrank.er, .von. Kosakenkugeln, getroffen, im Ural. Im Roman voiii©mitri!Purmanow (1923^ war Tschapajew ein spontan agierender Freischärler, der unter dem Einfluß seines Kommissars zu einem bewußt handelnden Rotarmisten aufstieg. Der Film der Brüder Wassiljew (1934) zeigte ihn als verwegenen Reiter. Beide Werke, obligatorisch für Millionen, sollten den Mythos von der neuen Welt und dem neuen Menschen festigen. Doch es funktionierte nicht. Über Tschapajew, seinen Adjutanten Petka und die Maschinengewehrschützin Anna wurden in Rußland Witze erzählt, geistreiche und obszöne, für die man hinter Gitter kommen konnte. Tschapajew wurde zu einer Gestalt wie Hodscha Nasreddin.
Viktor Pelewin, der schon mit »Omon hinterm Mond«, «Das Leben der Insekten« und »Die Entstehung der Arten« seine große Begabung erkennen ließ, schrieb 1996 den Roman »Tschapajew und Pustota«, der jetzt in einer exzellenten Übersetzung von Andreas Tretner vorliegt. Pelewin, der in den Witzen wichtige Zeugnisse der Gegenkultur sieht, machte Tschapajew zu einem geheimnisumwitterten Geistes-
Viktor Pelewin: Buddhas kleiner Finger. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Volk & Welt. 4ZLS„qeJx-4S.I}M~
neiden, der-die'wei'se^Gerässenheit des Buddhismus ausstrahlt, ohne den Anspruch, ein Weltverbessererer zu sein. Er ist im Besitz des kleinen Fingers von Buddha Anagama. Wenn er damit auf eine Erscheinung weist, offenbart sie ihre wahre Natur - und verschwindet im Nichts.
Pelewins Roman ist kein kopflastiger religiös-philosophischer Diskurs und auch kein unverbindlicher Spieltext der Postmoderne. Er ist spannend, liest sich gut, selbst wenn sich die zehn Kapitel am Ende als Teile eines riesigen Puzzles erweisen. Der Leser wird es geduldig zusammenfügen - der 26jährige Dichter Pjotr Pustota, die Hauptgestalt, hilft dabei. Vermutlich befindet sich Pustota in der psychiatrischen Klinik von Timur Kanaschnikow, der den Patienten mit seinen Spritzen zur »totalen Katharsis« führen will. Doch der vergißt Krankenbett und Zwangsjacke, bewegt sich in eingebildeten Welten.
Pustota lebt im Jahr 1919 (erstes Kapitel) und im Jahr 1991 (letztes Kapitel), und er stößt auf »Fakten« aus beiden Zeiten, die durchaus »real« sein könnten. Doch die Matrosen. Tschekisten. Mauser
und Brjussows von 1919 sind ebenso virtuell wie die Chasbulatows, Dudajews und »neuen Russen« im Moskau-
„»erJMxyon ^l^^Ue-GiguEen, und Geschichten des Romans
^existieren nurv/im Kopf Pustotas, sind Zitate aus alter und neuer Mythologie, Produkte der totalen Visualisierung der Welt.
»Wenn in der Realität irgendwelche althergebrachten Verhältnisse zu Bruch gehen, dann passiert in der Psyche haargenau das gleiche«, so Professor Kanaschnikow. Doch vor den Sätzen des Psychiaters ist zu warnen. Denn Pustota heißt im Russischen »Leere«. Und Leere gilt im Mahayanabuddhismus als etwas Wahrnehmbares, das nur Form ist, aber keinerlei Inhalt hat. Am Ende des Romans fährt Pustota mit Tschapajew in die »Innere Mongolei«, wo die »Kafka-Jurte« steht. Er muß seinen Ural durchschwimmen, um sich endgültig vom leeren Ballast des Sowjetmythos zu befreien. Darin besteht seine Chance zur Reinkarnation.
Mit der Weisheit des Buddhismus angereichert, läßt Pelewins Roman auch gegensätzliche Lesarten zu. Damit steht er in der Tradition der großen russischen Literatur, die auf das quälende »Was tun?« niemals glatte Antworten parat hielt, sondern immer wieder neue Fragen provozierte.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/756531.tschapajews-weisheit.html