nd-aktuell.de / 04.08.2005 / Kultur
Hannes Gerber, neun Jahre alt
Klaus Steinhaußen: »Höhenflug«
Hannes Würtz
Während der alljährlichen Schweriner Poetenseminare las Klaus Steinhaußen, wenn sich die Seminarleiter vorstellten, immer mal wieder zehn Seiten aus einem Romanmanuskript. Doch fertig wurde er mit seinem Buch erst, nachdem ihm das Rentnerdasein mehr Ruhe brachte. 1999 erschien, nach jahrzehntelangem Ringen, »Wie könnte die Nachtigall jemals sterben« über die frühe Kindheit in einer Nordseestadt zu Beginn der Nazidiktatur. Der Lyrikdozent am Leipziger Literaturinstitut und Lektor (mancher erinnert sich noch heute an den Geschichtenkalender aus dem Greifenverlag), einst Zögling der Meißner Fürstenschule St. Afra, später Bäcker und Ingenieur, hatte fremden Manuskripten freundschaftlich auf die Sprünge geholfen und dabei die eigenen vernachlässigt.
In seiner Erzählung »Höhenflug« knüpft Steinhaußen, wiederum autobiografisch, an seinen Nordseeroman an. Hannes Gerber, neun Jahre alt, berichtet, wie sein Vater, der sich als Smutje beim Norddeutschen Lloyd durch die Welt getrieben hatte, zu seinen sächsischen Ursprüngen zurückkehrt, das neue Domizil in Meißen aufschlägt.
Man spürt die unverstellte, sensitive Sicht des Jungen auf eine Landschaft, die mit Lößnitzhöhen und Schrammsteinen prahlen kann, mit der Elbe, durch die sich die Schaufelräder der Dampfer pflügen. Hannes spielt mit Freund Heini, dessen Familie es dreckiger geht, Räuber und Gendarm im »Paradies«, jener gesprengten Fabrik, die in der Weltwirtschaftskrise Pleite ging. Sie gehen ins Holzpantoffelgymnasium zum unausstehlichen Nazilehrer Maul, der in den Krieg geht und auf dem »Feld der Ehre« verkommt. Sein Nachfolger Bergengrün hat noch Schäden vom Geschützdonner des Ersten Weltkriegs. Und da ist auch die widerborstige, unnahbare Mitschülerin Änne. Ihr Vater ist verhaftet, weil er den Krieg als Verbrechen bezeichnete und von einem Maurerkollegen angeschwärzt wurde. Steinhaußen gibt Acht auf jedes Detail, auf nuancierte Charakterisierungen. Braunverfärbten Fotos entsteigen auch die Altvorderen und erhalten Gesicht und Stimme. Wie der Großvater, ein Turner, der nach seiner Trauung auf dem Geländer des Stadtkirchenturms den Handstand wagt. Großmutter Agnes sieht in ihrem goldenen Rahmen später, mit Fünfzig, wie eine Siebzigjährige aus. So viele Nachrichten über eine weit verzweigte Sippe, die sich im »gewöhnlichen Faschismus« behaupten muss. Die ihre Schurken hat wie Onkel Rudi, den unverbesserlichen »alten Kämpfer«, oder die ehrlich ringende Großtante Adelheid, die eine höhere Töchterschule besuchte und eine »gute Partie« machen wollte, sich dann jedoch in einen armen Bauernsohn verliebt und sich abrackern muss, mit Kühen und Schweinen unter demselben Dach.
Hannes Gerber soll beim Fahnenappell in der Schule das Horst-Wessel-Lied singen und im Kirchenchor »Nun danket alle Gott« zelebrieren. So viel Widerspruch erfährt der Heranwachsende. Und Vater Fritz sagt: »Werde bloß nicht zu schnell erwachsen, Junge, damit nicht auch du noch Kanonenfutter wirst.«
Klaus Steinhaußen: Höhenflug. Wartburg Verlag, Edition Muschelkalk. 65 S., brosch., 8,60 EUR.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/75983.hannes-gerber-neun-jahre-alt.html