Schnelle Strömung an der Oberfläche. Man kann nicht anders als mitschwimmen. Weiterlesen, den Kopf nicht von den Seiten heben, weil man doch wissen will, was aus Alon Katznelson und Olga Michelitzki wird, den beiden Spionen. Er ist Gehirnforscher, arbeitet im Auftrag des Mossad in Amsterdam an einer Psychowaffe. Sie war in der Leipziger »Runden Ecke«“ vor die Wahl gestellt worden Knast oder libanesisches Ausbildungslager, steht nun für die HVA im Dienste des Iran (gab's das?) und soll mit allen Mitteln Alons Arbeit auskundschaften. Er wiederum soll, auch mit allen Mitteln, herausbekommen, »was die vorhaben«, Olga sogar zur Versuchsperson für seine Forschungen machen. Aber weil die beiden sich sofort voneinander angezogen fühlten, als sie sich am 1. November 1987 im Amsterdamer Restaurant »Ural« zum erstenmal sahen, lassen sie sich nicht so einfach manipulieren. Außerdem gibt es da noch etwas, das ihr Zusam-
menkommen schwierig macht, etwas Erschreckendes, was man schon in der Mitte des Buches hätte ahnen können, wenn man es für möglich gehalten hätte ...
Agentenklamotte? Auch bloß Tarnung! Nicht im Umkreis der P-Waffe sind die Kraftfelder im Buch, und wenn Alon eine Nacht im Affenhaus zubringt - ein Glanzpunkt übrigens diese Episode! -, hat er anders im Sinn als seine Experimente. Vielleicht ist es gerade das, worum es hier geht: Was der einzelne im Sinne hat, wovon der andere nichts wissen kann, aber vielleicht erfühlt. Die ganze Zeit über werden Alon und Olga von Fragen gequält: Weiß sie, daß er weiß? Weiß er, daß sie weiß? Erregendes Spiel, einander zu erkennen. »Ich weiß, daß du weißt« im Buchtitel ist ein Augenblick der Erfüllung. Denn das Denken ist, wie es bei Novalis heißt, »nur ein Traum des Fühlens, und was das Fühlen ist, und wer der ist, der fühlt, wer weiß das schon«.
Das sagt der blinde Religionsphilosoph Elias, eine von vielen illustren Gestalten, die Ulla Berkewicz durch ihre Kunst zum Leben erweckt. Von ihm stammen manche lebensweisen Bemerkungen im Buch.
Zum Beispiel der Vergleich zwischen Menschen und Igeln: »Kämen sie einander zu nahe, würden sie stechen, blieben sie zu weit voneinander entfernt, frören sie.« Insofern ist die Kneipe »Ural« ein gesegneter Ort. (Wie genau hat die Autorin russische Atmosphäre erspürt!) Die Menschen, die sich allabendlich dort treffen, vermögen einander Wärme zu geben. Sie essen Borschtsch und Pelmeni, trinken Pertsowka oder Rjabinowka, debattieren über Israelis und Palästinenser, den Fundamentalismus auf beiden Seiten, denken über die Wahlverwandtschaft zwischen Juden und Deutschen nach, sinnieren über Leben und Tod, aber sie urteilen nicht übereinander, lassen einander sein, wie sie sind. Bunte Vögel. Die bleiche Kasachin und die Schwarze Kolumnistin, die Dharma-Meisterin Ji Kwang aus dem Lotostempel von nebenan, zwei Towarischtschi vom KGB, die Schwuchteln Hanz und Franz, die bei der Roten Marina wohnen. Die wiederum grüßt jeden mit »Christos woskres«. Elias kommt mit seiner Freundin Thekla Abendroth, genannt die Tigerin. Gigi, die alte Tänzerin, himmelt Eduwaard van der
Melk an. Der war einer von vielen Liebhabern der Kneipenbesitzerin Tatjana, wie die Radunskyzwillinge oder der Starke Johann auch.
Doch so viele Affairen Tatjana Arkadjewna Orlowa auch hatte, ganz hingegeben hat sie sich nie. Nun ist sie alt, behindert und von berückender Hellsichtigkeit. Die Faszination der Geschichte von Alon und Olga kommt nicht zuletzt von dieser erstaunlichen Frau, die sie erzählt. Denn vieles, was sie weiß, erfuhr sie auf rätselhafte Weise, als sie in der Nacht vom 8. auf den 9 November 1987 Wodka trinkend auf die Amstel schaute, »unterschied das helle vom dunklen Wasser, das schwere vom leichten, das harte vom weichen, geriet in seine Strömung, fror, hatte das vertraute Emfinden, eine neue Wirklichkeit tauchte in meiner Wahrnehmung auf...« Das hatte sie von ihrer Erzieherin damals in Petersburg gelernt, der schönen Raskowskaja, einer Mathematiklehrerin mit übersinnlichen Ambitionen: »daß Wunder nicht im Gegensatz zur Natur stehen, sondern nur im Gegensatz zu dem, was wir über die Natur wissen«. Und im Hintergrund die
Gesänge aus Tschaikowskis »Pikowaja Dama«, dieser dunkel getönten Ballade von der Sehnsucht nach Glück.
Wie oft wird man den Roman wohl lesen müssen, um nicht von dem Gedankenfluß mitgerissen zu werden? Aber ganz genießen kann man ihn nur, wenn man auch die Ruhe findet zurückzublättern. Man braucht Zeit, um herauszufinden, was da alles miteinander verwoben ist. Kunstvoll, aber nicht so fest, daß für die Phantasie des Lesers kein Raum mehr bliebe. Wo so viel von Gewalt die Rede ist, vom heiligen Krieg, der beiden Seiten alle Mittel heiligt, Verstümmelung der Körper oder Manipulation am menschlichen Gehirn, da wird zugleich ein Lied der Freiheit und der Liebe angestimmt. Und das mit Wucht. Da scheint für Momente alles offen, alles möglich. »Der Unwissende nennt das Magie, der Weise wird sich hüten, es zu nennen.«
Ein Buch der Leidenschaft, wie es nur von einer Frau geschrieben werden konnte, ein unsentimentaler, wilder Aufschrei der Sehnsucht. Tatjana erinnert sich, wie Elias sie zur Seite nahm. »Das Paar hat Angst, da ist Verzweiflung, sagte er... und fragte: Wie sagt Herzl? Und antwortete: >Es braucht ein bißchen Verzweiflung für große Dinge.<«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/765359.der-unwissende-nennt-das-magie.html