Von Jürgen Holz
Für die Staatsanwaltschaft II beim Berliner Landgericht ist Eile geboten. Spätestens im Oktober 2000 fällt der Hammer. Dann nämlich tritt nach derzeitig noch gültiger Rechtslage die Verjährung für so genannte »mittelschwere DDR-Kriminalität« ein - vorausgesetzt, bis dahin ist kein erstinstanzliches Urteil gefällt worden.
In diese Kategorie fällt auch - nach Lesart der Staatsanwaltschaft II - das »DDR-Staatsdoping«. Den Pilotprozessen gegen frühere Schwimmtrainer und Sportärzte des SC Dynamo Berlin und des TSC Berlin folgten die Deals des Gerichts mit dem juristisch durch den Paragrafen 153 a der Strafprozessordnung abgedeckten »Strafbefehl«. An die Stelle der desaströsen öffentlichen, mündlichen Verhandlungen trat der »geräuscharme Vollzug«, bei dem auf ein mündliches Verfahren gänzlich verzichtet und beim Eingeständnis von
»geringer Schuld die Strafverfolgung beseitigt« wird. Als Gegenleistung wurde sozusagen Strafbegrenzung in Form von geringeren Geldbußen gegen die angeschuldigten Trainer und Sportärzte ausgesprochen, die damit fünfstellige Prozesskosten vermieden.
Doch die unter Zeitdruck und Erfolgszwang stehende Berliner Staatsanwaltschaft II drückt jetzt auf Tempo, um gegen hochrangige DDR-Sportfunktionäre vor-'zugehen. Wie ND aus zuverlässiger Quelle erfuhr, sind die Deals gegen den früheren DTSB-Vizepräsidenten Dr. Thomas Köhler, der rund 45 000 Mark zahlen soll, und den DTSB-Vizepräsidenten Prof. Horst Röder, dem inzwischen der Strafbescheid über eine einjährige Gefängnisstrafe bei vermutlich zweijähriger Bewährungsfrist zugegangen ist, so gut wie abgeschlossen.
Jetzt ist die Anklage gegen den früheren DTSB-Präsidenten Manfred Ewald und den stellvertretenden Chef des Sportmedizinischen Dienstes der DDR, Dr. Manfred Höppner, eingeleitet worden. Höppner gilt in den Augen der Staatsanwaltschaft als
der »DDR-Chefdoper«. Beiden wird »Beihilfe zur Körperverletzung in 142 Fällen« zur Last gelegt.
In seinem 1994 erschienenen Buch »Ich war der Sport« hatte Ewald geäußert: »Auch wir konnten trotz aller Verbote den Missbrauch von Doping nicht unterbinden. Aber wer in der DDR Doping-Mittel einsetzte und entdeckt wurde, ob Sportler, Sportmediziner, Trainer oder Betreuer, wurde in der Regel zur Verantwortung gezogen ... Es stellt sich heute leider heraus, dass der Doping-Missbrauch im Sport der DDR verbreiteter war, als unsere Leitung wußte bzw. unter Berücksichtigung einer Dunkelziffer annahm.«
Die Anklage wirft Ewald und Höppner nun jedoch vor, »im Einvernehmen mit der Sportführung der DDR im Staatssekretariat für Körperkultur und Sport die systematische und zentral gesteuerte Abgabe von hormoneilen Dopingmitteln (insbesondere Oral-Türinabol) als sogenanntes unterstützendes Mittek an größtenteils minderjährige Sportlerinnen und Sportler in den Bereichen Schwim-
men und Leichtathletik konzipiert und praktisch umgesetzt zu haben«. Weiter geht die Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen davon aus, dass »zwischen den Angeschuldigten insoweit Einvernehmen bestanden haben soll, als sie den Einsatz anaboler Steroide zur Erreichung von sportlichen Spitzenleistungen als notwendig erachteten«.
Zu diesem Zwecke soll die Leistungssportkommission (LKS) unter Vorsitz von Ewald im Oktober 1974 die Gründung der »Arbeitsgruppe u.M.« (unterstützende Mittel) beschlossen und Dr. Höppner die »Ordnung unterstützende Mittel« entwickelt haben. In dieser »Ordnung« seien alle wesentlichen Informationen zum Einsatz von Dopingmitteln sowie auch Erkenntnisse über Nebenwirkungen erfasst worden. Dem heute 65-jährigen Dr. Höppner soll die praktische Durchführung des Doping-Programms des DTSB oblegen haben. Er habe auch für die Beschaffung und Verteilung der Präparate an die Sektionsärzte und Trainer gesorgt.
Der 73-jährige Ewald wird beschuldigt, auf Grund seines Weisungsrechtes als DTSB-Chef die Arbeit der »AG u.M.« maßgeblich beeinflusst und gefördert zu haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm auch vor, »gesundheitliche Bedenken leichtfertig zerstreut« und eine »syste-
mastische Verschleierung des Doping-Programms« betrieben zu haben. Er soll verhindert haben, dass die betroffenen Sportlerinnen über die Verabreichung der Hormonpräparate und über deren Nebenwirkungen aufgeklärt werden.
Die Doping-Vergabe - vor allem mit dem männlichen Hormonpräparat Oral-Turinabol - habe bei den Sportlerinnen zu nachhaltigen Störungen des Hormonhaushalts und zu Vermännlichungs-Erscheinungen geführt. Die 32 Sportlerinnen, die Strafanträge gestellt haben, geben an, so die Anklageschrift, bis heute an Zyklusstörungen oder anderen gynäkologischen Erkrankungen zu leiden.
Nach Lage der Dinge ist es äußerst zweifelhaft, ob Ewald überhaupt vor Gericht erscheinen wird. Der Staatsanwaltschaft ist schon seit längerem bekannt, dass der 73-Jährige auf Grund erheblicher gesundheitlicher Probleme nicht verhandlungsfähig ist. Dies haben Ewalds Anwälte der Staatsanwaltschaft auf Rückfragen schon vor Monaten bestätigt. Dennoch wurde ohne jede Prüfung dieses gesundheitlichen Sachverhalts Anklage erhoben. Das widerspricht den allgemeinen Erfahrungen. In den bisherigen Doping-Verfahren haben sich die juristischen Mittel als untauglich erwiesen, um die DDR-Dopingproblematik wirklich aufzuarbeiten. Daran wird auch der Ewald-Prozess nichts ändern.