Von Gisela Karau
Alle Jahre wider ist es eine Zitterpartie, das Geld für eine neue Runde der »Usedomer Gespräche« zusammenzukriegen. Diese internationalen Begegnungen von Kinder- und Jugendbuchautoren mit Wissenschaftlern sind ein zeitgemäßer Erfahrungsaustausch nicht nur über Bücher und Lesen, sondern über das Leben der Heranwachsenden in einer von Widersprüchen zerrütteten Welt. In diesem Oktober war die Hansestadt Stralsund der Gastgeber. Es ging um Kinder- und Jugendarmut, um die daraus resultierenden fehlenden Entwicklungschancen der jungen Generation, wie Gutrune Baginski, Vorsitzende des Bödecker-Kreises von Mecklenburg-Vorpommern, in ihrer Begrüßungsrede sagte. Sie verwies auf die bereits in der 2. Tagung formulierte Sorge, »dass angesichts wachsender rechtsextremer und gewaltbereiter Denk- und Verhaltensweisen die Urbotschaft der Literatur von Toleranz und Sensibilisierüng wenig Wirkung zeige«. Dem Rostocker Schriftstellerehepaar Piri und Klaus Meyer ist es erneut gelungen, interessante Referenten zu gewinnen, Professor Lothar Krappmann vom Max-Planck-Institut für Erziehungswissenschaften und den durch kontroverse Debatten bekannt gewordenen Professor
Christian Pfeiffer vom Krimonologischen Forschungsinstitut Hannover.
Armut, sagte Prof. Krappmann in seinem Referat, sei eine bedrückende Erfahrung im Leben viel zu vieler Kinder und Jugendlicher und beunruhigender Bestandteil der Auseinandersetzung um soziale Gerechtigkeit, eine vielgestaltige Realität, die kreatives politisches Handeln verlange. Er verglich die alten und die neuen Bundesländer und stellte fest, dass es nach anfänglich geringen Armutsquoten im Osten einen schnellen Anstieg gegeben habe, da sich die Einkommen auseinander entwickelten und es vielen allein erziehenden Müttern schwerfalle, sich an die veränderte Betreuungssituation der Kinder anzupassen. »Sie verloren Handlungsspielräume und damit auch Möglichkeiten, Einkommen zu erzielen.« 1994 lebten 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Westen und mehr als ein Drittel im Osten Deutschlands in einkommensschwachen Mütterhaushalten und damit nicht selten in einem Umfeld von Hoffnungslosigkeit und Enttäuschungen, aus dem sich ihre emotionalen Zustände und Handlungsmuster, Ängste und Aggressionen ergeben. »Kinder aus schwachen Einkommensverhältnissen fühlen sich körperlich weniger wohl als solche aus Normalhaushalten. Das sind Ausgangspunkte für Medikamenten- und Drogenmissbrauch.« Sie suchen Zusammenhalt in einer Gegenkultur der an den Rand ge-
drängten. Nur in Familien, wo die Beziehungen nicht unter der Mangelsituation leiden, warmherzig, aufrichtig und verständnisvoll bleiben, seien Kinder gegen Selbstzweifel, Depression und Hilflosigkeit abgeschirmt.
Heftige Auseinandersetzung rief das Referat von Professor Pfeiffer hervor, der erneut seine Auffassung vertrat, dass die Krippenerziehung in der DDR (bis hin zum kollektiven Nachttopfsitzen) eine Ursache von Gewalt und Rechtsextremismus im Osten sei. Unterdrückte Individualität, staatlich organisierte Erziehungsdefizite, mangelnde elterliche Zuwendung, das ganze autoritäre System ist für ihn, der aus der Gegend um Frankfurt (Oder) stammt, Ursache gegenwärtiger Fehlentwicklungen. Dass im Osten im Gegensatz zum Westen, wo es vorwiegend Einzeltäter gebe, die Gruppentäter dominieren, führt er auf die sozialistische Losung zurück. Gemeinsam sind wir stark. Er gestand zu, dass es auch im Kapitalismus Systemschwächen gebe, Konkurrenzdenken und die Entstehung einer Gewinner-Verlierer-Kultur, aber der Unterschied sei, man könne sich wehren.
Sein Referat zerfiel in zwei Teile. Der erste galt der Fragestellung, wie hoch der Anteil ausländischer junger Straftäter an der Kriminalität in der Bundesrepublik sei. Anhand von Umfragen, deren Wissenschaftlichkeit von dem türkischen Autor Dr. Kemal Kurt in Zweifel gezogen
wurde, konstatierte er einen überaus hohen Prozentsatz türkischer Übeltäter und kommentierte die Einwanderung aus dem osmanischen Reich als »Import und Machokultur«. Widerspruch konterte er mit dem Hinweis, er habe viele türkische Freunde, gehe zum Türken essen und kenne sich in der Türkei gut aus.
Für die DDR kann er das nicht in Anspruch nehmen, bescheinigte ihm Uwe Kant. »Sie wissen einfach zu wenig über uns.« Gewalt unter Ostjugendlichen sei wohl auch durch Nachwendeschäden zu erklären, z. B. durch importierte Kriminalität wie Prostitution, Zuhälterei, Drogendeal, Geldwäsche usw., die sich nach der Vereinigung dem gewinnversprechenden, bis dahin unbeackerten Gebiet im Osten zugewandt habe. »Haben Sie darüber nie nachgedacht?« Unsere Kinder seien mit dem Vorteil aufgewachsen, dass es keine Bildzeitung gegeben habe. »Dafür das ND«, konterte Pfeiffer scharf. Darauf Kant: »Der Hitlergruß ist in der autoritären DDR verboten gewesen. Kommt Herr Frey aus München oder aus Müncheberg?« Die Krippen-Ossis hätten es immerhin zustande gebracht, eine Regierung zu stürzen, ob das den Wessis auch gelingen werde? Sein Sarkasmus kam bei dem Referenten nicht an. Für ihn erklärt sich der heftige Unmut über seine Thesen in der Empfindlichkeit der Ossis gegenüber Besserwessis, über die Entwertung des eigenen Lebens durch die Verliererrolle, in die sie geraten seien. Als Gegenbeispiel las er einen ihm zustimmenden Brief vor, von denen er viele erhalten habe. Kerstin Zühlsdorff, Abteilungsleiterin im Stralsunder Kulturamt, gab ihm recht. Sie schilderte fast unter Tränen, wie un-
glücklich sich ihre kleine Tochter in der Krippe gefühlt habe. Piri Meyer erinnerte an die Auseinandersetzungen vieler Autoren mit dem Volksbildungssystem der DDR. Renate Schoof aus Köln, die sich als »alte 68erin« bezeichnete, äußerte ihr Unverständnis darüber, dass Professor Pfeiffer den Kommunismus als Hauptfeind betrachte, für sie sei nach wie vor der Antikommunismus die Grundtorheit des Jahrhunderts. Ilse Behl, die sich »als Wessi-Frau« vorstellte, gestand dem Professor das Recht zur Provokation zu, wandte sich jedoch entschieden gegen die von ihm genannten Folgeschäden der Krippenerziehung in der DDR, die sie, seit sie in Thüringen lebe, so nicht festgestellt habe.
Zu den »Usedomer Gesprächen«, an denen Schriftsteller aus den Ländern rund um die Ostsee teilnehmen, gehören traditionsgemäß Lesungen in Schulen und Bibliotheken. Deutsche Autorinnen und Autoren begleiteten die Gäste aus Dänemark, Schweden, Estland, Litauen, Lettland, Finnland, Polen, Russland und Norwegen in Stralsunder Gymnasien, wo sie sich und ihre Arbeit vorstellten und ins Gespräch mit Schülern kamen. Der Hannoveraner Hans Bödecker, der sich seit Jahren warmherzig für die ideellen und materiellen Voraussetzungen dieser jährlichen Treffen engagiert, sieht den Sinn der von seinem Vater in den 50er Jahren initiierten Förderungstätigkeit darin, das Kinderund Jugendbuch als Kulturgut zu verteidigen, ebenso die Vielfalt der kleinen Verlage, denen die großen auf dem Markt das Wasser abgraben. An Themen für die nächsten »Usedomer Gespräche« wird es also nicht mangeln, sofern sich wieder so aufgeschlossene Partner finden wie dieses Jahr in Stralsund.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/784369.kinderarmut-und-gewalt.html