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Der letzte Schulterschluss

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trauensverlust wurde gigantisch, es blieb nur noch Misstrauen übrig. Die Menschen verließen das Land. Ich hatte das nie vor. Ich habe aber darüber nachgedacht, warum ich bleibe. Ich wollte das mit gutem Gewissen sagen können, und dafür musste in diesem Land ganz viel geändert werden. Ich wollte es ja nicht abschaffen. Ich hatte ja damals das Bedürfnis, es zu einem Ort zu machen, an dem ich gern wohnen bleibe. So ist das damals alles gekommen. Naja, und dann ist alles anders gekommen.«

Jutta Wachowiak arbeitete in der Kommission zur Aufklärung der Polizeiübergriffe mit und konnte den 4. November deshalb nicht mit vorbereiten. Eine Initiativgruppe gründete sich. Schon am 17. Oktober beantragte Wolfgang Holz vom BE, die Demonstration zu genehmigen. Ulrich Mühe, Star am DT, nahm seinen Pass, um in Westberlin die Kritikerin der FAZ zu bitten, den Demonstrationstermin in die Medien zu lancieren, um so von au-ßen Druck auszuüben. Der 4. sollte gehalten werden - Zuspätkommer bestraft das Leben.

Mühe gehörte zum Kern der Gruppe. Er war früh politisiert, er hatte sie nie verstehen können, die Generation von Dieter Mann, Klaus Piontek und Kurt Böwe: »Die ABF-Generation, die die 50er Jahre noch eine Zeit des Aufbruchs nannte. Doch es war auch die Zeit der Säuberungen, ich habe das nie zusammen gekriegt.« In diesem 89er Herbst gab es am DT zwei Gruppierungen: jene, denen die Erfahrung mit der Ausbürgerung Biermanns immer noch in den Knochen steckte, und jene, die sagten, wir müssen was tun. Etwas tun für Mühe war es »eine Mischung aus Abenteuer und mal gucken, wie weit man gehen kann. Dir können sie nichts mehr, dachte man.«

Beim Gespräch mit dem Ostberliner Polizeipräsidenten Rausch konnte darauf verwiesen werden, dass, würde die Demonstration nicht für den 4. genehmigt werden, sich an diesem Tag trotzdem mehr Menschen auf dem Alex einfinden würden, als den Behörden lieb wäre. Am 26. Oktober war die Genehmigung erteilt.

Zur Gruppe gehörte auch Roland Gawlik, Ballettmeister und Choreograph an der Deutschen Staatsoper. Am Morgen des 4. November lag eine schlechte Nacht hinter ihm. Er hatte auf dem roten Tuch, auf dem Protestdemonstration stand und das sie dem Zug vorantragen wollten, geschlafen. Das heißt, geschlafen hatte er kaum. Ihm »saß die Angst ganz schön im Nacken, ich hatte mich weit aus dem Fenster gelehnt«.

Man muss über Angst reden, damit man den Mut mitdenkt. Gawlik hatte den 17 Juni '53 in Leipzig erlebt. Er wusste, wie schnell Menschenmassen außer Kontrolle geraten können. In den zurückliegenden Tagen hatten sie Hunderte grüne Schärpen mit der Mahnung Keine Gewalt versehen. Was, wenn der Alex schon vor Beginn des Zuges, der für zehn Uhr geplant war, brechend voll, unberechenbar wäre? Er war für die Spitze verantwortlich. Früh, sehr früh an diesem Morgen verstaute er das rote Tuch im Kofferraum seines Lada-Kombi, wo schon viele Plakate lagen. Ein großes Fass Leim und mehrere Besen im Anhänger, fuhr er schon früh zum Treffpunkt.

Auch Marion van de Kamp war schon

um sieben auf dem Alex. Um sich »durchzukämpfen«. Ein Gerücht, das Karin Ugowski bei ihrem Zahnarzt aufgeschnappt hatte, besagte, dass die SED zwei Millionen Linientreue aus der ganzen Republik auf den Alex karren wolle. Da stand sie, der Platz regennass und leer. Sie wandte sich zur Volksbühne, um den Bühnentechnikern die grünen Schärpen der Ordner zu geben. »Zuerst wollten sie die Schärpen nicht nehmen, sie hatten ja Weib und Kind zu Haus. Als Annekathrin Bürger sagte: >Gib her, Marion, ich gehe als Erste<, mussten wir sie nicht mehr überreden^«, . >;i ., /iiJ:c , rtll . r>l < ;

Gawlik sah, wie der Alex sich füllte. »Ich hatte mit Tausenden gerechnet, nicht mit Hunderttausenden. Sie quollen aus den U-Bahnschächten, sie kamen von der Karl-Marx-Allee, von der S-Bahn, den Hackeschen Höfen.« Angesichts dieses enormen Zulaufs und wohl auch, um zu verhindern, dass Schabowski sich an die Spitze setzte, beschloss man, eine halbe Stunde früher als geplant loszugehen. Die Spitze plakatierte die Strecke. Gawlik gibt zu, bei den Plakaten eine »gewisse Zensur« ausgeübt zu haben: Keine Aufrufe zu Gewalt, kein Nieder mit der DDR.

Der »Exportartikel Gawlik« hatte die ganze Welt bereist. Er hatte sich mehr als einmal gefragt: Bleibst du weg oder fährst du nach Haus. Zu Hause, das waren seine Familie, die Komische Oper und Tom Schilling. »Ich wollte ja kein Großdeutschland. Ich wollte einfach nicht, dass unser kleines Ländchen, das sich kulturpolitisch in der Welt nicht zu verstecken brauchte, ganz ausblutet.«

Die S-Bahn-Bögen, Karl-Liebknecht-Straße, Palast-Hotel und Schlossbrücke... Hier war der neuralgische Punkt: Wenn die Leute nun geradeaus, zum Brandenburger Tor zögen? Sie bogen nach links, zur Volkskammer. Später wird bekannt werden, dort lagen Kampfgruppen in Stellung. Staatsratsgebäude, Stadtbibliothek, Kultur minister ium, Molkenmarktbrücke. Neben Gawlik lief Lothar Scharsich, Bühnenbildner am BE. Er wird sich an dieses Bild erinnern: Wie die ersten über die Molkenmarktbrücke auf den Alex zurückströmten, während die nächsten, dicht gedrängt, über die Schlossbrücke nachrückten. Er wird nicht vergessen, »wie die Menschen mit ihrer Frustration, ihren Ängsten die selbst gesteckten Grenzen verließen und plötzlich den Mut hatten, sich nicht länger hinter irgendeiner roten Fahne zu verstecken«.

Die van de Kamp war nicht mitgelaufen. Sie hatte das Mikrofon bewacht. »Geben Sie es nicht aus der Hand. Wer das Mikro hat, hat die Macht«, hatte der Polizeichef gewarnt. So hatte sie auf dem Rednerwagen, der Lenin-Tribüne aus Michail Schatrows »Rote Pferde auf blauem Gras«, mit dem Mikro ausgeharrt: »Dich kriegt keiner, dachte ich.« Dann kam die Spitze des Zuges in Sicht.

Henning Schaller, Bühnenbildner am Maxim-Gorki-Theater Berlin, begrüßte die Demonstranten. Dann sprach Marion van de Kamp: Die Straße ist die Tribüne des Volkes. Johanna Schall und Ulrich Mühe, Jan Josef Liefers, Gregor Gysi, Marianne Birthler, Kurt Demmler, Markus Wolf, Jens Reich, Manfred Gerlach, Ekkehard Schall, Stefan Heym, Friedrich Schorlemmer, Tobias Langhoff, Joachim Tschirner, Klaus Baschleben, Heiner Müller, Lothar Bisky, Christoph Hein, Ro-

bert Juhoras, Konrad Eimer, Stefne Spira - Redner verschiedenster Couleur. »Demokratie jetzt oder nie! Und wir meinen Volksherrschaft!« artikulierte Christa Wolf. Schabowski war sich nicht zu schade, sich im Duktus der Bürgerbewegung als »Andersdenkender« anzubiedern. Er war sich nie für etwas zu schade gewesen. Die Leute wussten es und pfiffen.

Die Bohley durfte nicht reden. Walter Janka wollte nicht mit Wolf auf einer Tribüne stehen. Die Sonderakte des Ministeriums für Staatssicherheit belegt, dass die »Sicherheitsorgane« die Redner zum Teil : mit,besetzt ( e/i. An Schabowski ; erging der-Vorschlag, »das Meeting offensiv ... zu organisieren und damit in die Verwirklichung der Politik der Partei einzuordnen«. Letzteres schlug freilich fehl.

Direkt vor der Rednertribüne stand Lothar Scharsich, der Bühnenbildner. Er ahnte nicht, dass »etwa ein Drittel unserer Gruppe IM waren«. Heute weiß er es: »Es war nicht wichtig. Wir wollten den Alleinanspruch brechen, also mussten Vertreter der Macht dabei sein. Sie haben sich ja auch wunderbar selbst bloßgestellt.« Die Wachowiak erinnert sich: »Wir haben doch nicht vermutet, dass es Leute gibt, die in einer solchen Zeit noch kalkulieren können. Wir haben doch bloß empfunden! Natürlich haben wir gesehen, welch unglaubliche Mengen von Stasileuten die Demonstration durchsetzten. Aber wir haben ja nur gelacht! Weil wir uns so froh vorkamen. So sieghaft!«

Fünf Tage danach, am 9 November, ließ Schabowski die Mauer öffnen.

Herbst 1999 Bergsteiger bringen auf dem Alex am Haus des Lehrers ein Transparent an, auf dem steht: Wir waren das Volk. Lothar Scharsich, der Bühnenbildner, hat kein Interesse angemeldet. Nach der Demo vor zehn Jahren sammelte er die Plakate ein, im Blick eine deutsche Kunstausstellung, mögliches Motto: Der neue Mensch. Die Plakate wurden tatsächlich im Museum für Deutsche Geschichte gezeigt, später im Bonner Haus der Geschichte. Kaum, dass diese letzte Ausstellung stand, distanzierte er sich bereits: »Beginnend bei Kohl, kam sie irgendwann über den Hof in die DDR, um wieder im Bananensaal zu enden.« Was er nach dem Abbau der Schau mit seinem Jeep transportieren konnte, bewahrt er heute zu Hause auf. Die Sammlung ist nicht mehr vollständig, »wahrscheinlich ist das auch nicht mehr wichtig.«

Scharsich, der sich '89 schwor, »nie wieder zu kuschen«, gehörte zu denen, die forderten, das BE »selbst in die Hand zu nehmen, damit es kein konservatives Theater wird«. '93 wurde er entlassen. Gegenwärtig arbeitet er an den Theatern in Karlsruhe und Cottbus.

Roland Gawlik hat zehn Jahre nicht mehr an den 4. November gedacht. Es gab anderes zu tun: »Man musste mit dem Arsch an die Wand kommen.« Fragt man ihn, dann erinnert er sich: »Es war der letzte Schulterschluss. Es waren die letzten Zuckungen der Solidarität unter uns Künstlern. Als alle nach der D-Mark schrieen, war das abgeschlossen für mich. Man hätte davon profitieren können. Mancher hat profitiert, das wollte ich nicht. Dann kam alles, was ich nicht wollte, dieser Kulturkolonialismus.« Er hat sich »fast ein bisschen geschämt, dass wir Wegbereiter für solche Menschen waren«,

und manchmal schämt er sich heute noch »für diese kleinkarierte Mentalität.«

Gawlik kündigte vor ein paar Jahren seinen Vertrag mit der Staatsoper, um »was Neues zu probieren«. Heute ist er Ballettdirektor im Berliner Friedrichstadtpalast. Die Revuen sind ausverkauft, es gibt Szenenapplaus und Standing Ovations. Mehr Beifall als für Heiner Müllers »Die Bauern«, womit sich das Brecht-Theater letzten Sommer verabschiedete.

Für Ulrich Mühe ist der 4. immer noch ?ein großer Tag. »Es war der Tag, an dem wir ein Stück von diesem grauen Teppich ;wegris,sep,« Er h^t.seine Akte gelesen,, Er 'weiß'neüt'e/dass ef sich damals 'irrte:' Er hat seine Prominenz überschätzt, sie hätte ihn nicht geschützt. Hinter seinem Namen fand er den Vermerk Internierungslager Vor jeder Art von Ideologie hat er »einen ziemlichen Horror«, und obwohl er die Gesellschaft, wie sie jetzt ist, nicht für ideal hält, hält er sie für die einzig mögliche. »Dass die Leute dann mit den Füßen abstimmten, war ja letztlich auch okay. Eine Diktatur von Intellektuellen wäre es ja auch nicht gewesen. Dann hätte Heiner Müller gesagt, was Kultur ist.«

Mühe kehrte dem Deutschen Theater 1992 den Rücken. »Da kamen Leute, ich wusste nicht, warum ich vor denen spielen sollte. Ich dachte, die verstehen mich doch nicht.« Die Wiener Burg und Salzburg setzten Fünf-Ränge-Highlights in seiner Karriere, er dreht für Film und Fernsehen. Jetzt kam er nach Berlin zurück, nächstes Jahr wird er vermutlich wieder bei Peymann Theater spielen.

Jutta Wachowiak ist Dozentin an der Schauspielschule »Ernst Busch«. Sie gehört noch zum Deutschen Theater und dreht mit Margarethe von Trotta Uwe Johnsons »Jahrestage«. Nach dem 9 November hielt sich ihr »Mitleid sehr in Grenzen: Weil so viel Kleinkariertheit, Ignoranz und Unintelligenz Folgen hat. Dann geht mir auch nicht aus dem Kopf, wie viele Opfer es kostete, einen neuen Entwurf von Gerechtigkeit wegen Blödheit so zu diskreditieren.« Außerdem fällt ihr dann ein, dass »unser Versuch, ganz einfache Leute in die Theater zu führen, nur sehr partiell zu einem Anspruch führte, den sie dann auch verteidigt hätten«

Trotzdem ist sie enttäuscht. Sie ist heute nicht mal sicher, »ob es eine Chance für Demokratie überhaupt gibt«. Sie argwöhnt, »dass die, die wir wählen, nicht die sind, die uns regieren«. Vor allem eine Frage bewegt sie: »Wohin soll ich mit meinen Fragen? Wenn man Antworten hat, wohin damit? Muss sich selbst ändern, wer die Welt ändern will? Dann blieben nur die kleinen Zirkel, in denen man sich bewegt und austauscht. Aber das waren doch die Nischen. Was war dann an den Nischen so schlecht?«

Marion van de Kamp verließ die Volksbühne 1991, um in den Ruhestand zu gehen. Heute brilliert die Grande Dame des Ostens noch im Theater im Palais. Mit dem Abstand von zehn Jahren sieht sie den 4. November so: »Das Rad der Geschichte rollt, ob man Demonstrationen macht oder nicht. Es ist die Wirtschaft, die bestimmt. Ich glaube nicht, dass man etwas bewirkt.«

Dieser Tage schlug jemand vor, sie sollten den zehnten Jahrestag des 4. November feiern. Die van de Kamp hatte keine Lust: »Sollen wir uns selber feiern? Oder was sollen wir feiern?« Dann sagte sie: »Es ist vorbei.«

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