Auch dieses Jahr gab es in Berlin einen Revolutionären 1. Mai. Den ersten gab es in Kreuzberg gewissermaßen hinten rum: Er begann in den Abendstunden des 1. Mai 1987 mit dem Umwerfen eines Polizeibullis durch autonome GenossInnen unter gefälliger Anteilnahme von tausenden Neugierigen am Lausitzer Platz. Dabei kann man aus einer aktionsfixierten Sichtweise die Sinn-Frage nach dem „Warum?“ noch stets mit der aus fröhlicher Resistenz gespeisten Gegenfrage: „Warum denn nicht?“ kontern. Richtig ist hier die Einsicht: Da die Lizenz zu einer solchen Aktionsform im Versammlungsrecht nicht existiert, konnte sie bei den Ordnungsbehörden zuvor weder angekündigt, geschweige denn angemeldet werden.
Geschieht so etwas und bereitet es vielen Menschen anhaltend Lust und Freude wie an diesem Maitag des Jahres 1987, dann sorgt das aller Orten für Irritationen. Am Tag danach berichtete die Tagesschau[1] am 20-Uhr-Sendeplatz von den „schwersten Krawallen“ seit Jahren, „die am Rande eines Straßenfestes ausgebrochen“ seien und die „bis in die tiefe Nacht andauerten“. In gewohnt knapp nüchterner regierungsamtlicher Diktion, und leider nicht in seiner plattdeutschen Muttersprache, unterrichtete Tagesschausprecher Wilhelm Wieben die Bevölkerung wie folgt: „Warum die Krawalle ausbrachen und warum sie ein solches Ausmaß annahmen, darüber wird noch gerätselt.“
Das war damals einem mit einer noch unverbraucht wirkenden jungen Visage ausgestatteten stellvertretenden Kreisvorsitzenden SPD in Kreuzberg doch etwas zu wenig an Analyse. Und so versuchte sich Peter Strieder an der Lösung eben dieses via Tagesschau in Millionen deutscher Haushalte verbreiteten Rätsels der Mai-Randale: „Letztlich glaube ich, ist es so ein Gemisch aus materieller und ideeller Not, die hier in Kreuzberg ganz brutal existiert. 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, 70 Prozent Arbeitslosigkeit bei ausländischen Jugendlichen, 11.000 Sozialhilfeempfänger. Da braut sich was zusammen. Die Leute haben keine oder nur wenig Lebensperspektive. Und da kommt es irgendwann einmal zu Eruptionen. Das bildet alles zusammen ein explosives Gemisch.“
War damit das „Rätsel“ des ersten Revolutionären Mai gelöst, von dem in der Tagesschau die Rede war? Wie auch immer: Auch so wie Peter Strieder konnte man es damals sehen und es bleibt einfach traurig, dass er daraus in den folgenden Jahren durch seine als Stadtentwicklungssenator an exponierter Stelle verfolgte Politik in der Stadt die widersinnige Konsequenz zog, die „Lebensperspektive“ von noch mehr Menschen weiter zu minimieren. Denn dass heute über die alte Kreuzberger Bezirksgrenze europaweit hinweg, die „materielle und ideelle Not (…) ganz brutal existiert“ und dafür sorgt, dass „die Leute“ in den aktuell herrschenden kapitalistischen Verhältnissen „keine oder nur wenig Lebensperspektive“ besitzen, wird auch er dann nicht bestreiten, wenn ihm noch ein Funken Verstand eigen ist.
Da ist es doch wieder allemal an der Zeit, das sich „was zusammenbraut“ und – um noch einmal Strieder mit einer klugen Einsicht aus dem Jahre 1987 zu Wort kommen zu lassen, – „zusammen ein explosives Gemisch“ entsteht. Wie sich aber das dann im Detail vollzieht, das weiß letztlich niemand so genau vorherzusagen. „Umso besser“, würde es hier kein geringerer als Theodor Adorno formulieren und auch so schreiben sich manche Rätsel, die Revolten nun einmal mit sich bringen, in das Kontinuum der unglücklichen Geschichte von gesellschaftlicher Armut, Herabwürdigung und allgemeinen Elend ein. Sie waren, sind und werden immer wunderbar bleiben, denn sie entzünden einen Feuerschein, der noch stets weit über sie hinausweist.
Diese Zeichen der Revolte aus dem Mai 1987 haben über ein Vierteljahrhundert nunmehr organisatorisch getragen von antifaschistisch motivierten linksradikalen Gruppen als eine Art alltägliche Eventpolitik überdauert. In diesem Jahr haben sie nun auch eine Delegation griechischer Gewerkschafter[2] und sozialer Aktivisten erreicht.
Sie führten die diesjährige Demonstration mit dem Leittransparent[3] unter dem zunächst schlichten aber letztlich sehr vernünftigen Motto: „Zusammen kämpfen gegen Krise, Krieg und Kapitalismus“ an. Gemeinsam mit ihnen dürfen wir die große Hoffnung hegen, das Rätsel, dass wir alle immer noch in einer ziemlich schlecht eingerichteten Welt leben müssen, zu beseitigen.