»Die Wege des Herrn sind untergründig« pflegt mein Bruder zu sagen, wenn er nicht versteht, was passiert. Mir passierte vor einigen Jahren ein Probe-Abo von »neues deutschland«, einer Tageszeitung, die ich in meiner Jugend mit der Zange nicht angefasst hätte. Irgend ein Witzbold hatte sich einen Spaß erlaubt und einen Studenten in seiner Nachtschicht mit einem Vier-Wochen-Probe-Abo auf meinen Namen beglückt. Als ich die Zeitung in meinem Briefkasten fand, war ich fassungslos, rief sofort erbost in der Redaktion an und forderte Aufklärung. Der Umstand an sich wurde mir freundlich erklärt mit dem Hinweis, dass das Abo nach vier Wochen automatisch endet und ich mir also keine weiteren Sorgen machen müsste und man würde bedauern, wenn mir dadurch Unannehmlichkeiten entstünden, könne jetzt aber aus technischen oder Gründen, die ich verdrängt habe, nichts an der Sache ändern.
Die Unannehmlichkeit bestand dann also darin, dass ich täglich mit einer Zeitung beliefert wurde, die ich um keinen Preis lesen wollte. Es dann aber natürlich doch tat, der Mensch ist bekanntlich ein neugieriges und leicht verführbares Wesen, unter anderem durch Druckerschwärze.
Ich fixierte mich anfangs auf solch Texte wie eine Kolumne, die »Mit spitzer Feder« oder ähnlich hieß, um mein Feindbild zu bestätigen, kam aber nicht umhin, auch ein paar wirklich gut recherchierte Artikel über linke Projekte irgendwo auf der Welt zu entdecken, ebenso eine für sonstige mir bekannte Tageszeitungen ungewöhnliche Berichterstattung über linke Politik unter anderem in Berlin.
Mein Feinbild bröckelte. Ich fühlte mich wie eine Art Verräterin am Schicksal von Menschen, die mir nahe stehen und die mit den herrschenden Kräften, deren Zentralorgan mein Bewusstsein in früheren Zeiten vergeblich zu unterwandern suchte, zum Teil sehr böse Sachen erlebt hatten. Jetzt hielt ich dieses ehemalige Organ in den eigenen Händen, las mit den eigenen Augen darin und spürte Sympathie. - Das konnte nicht wahr sein!
Das Probe-Abo endete wie angekündigt unproblematisch. Es folgte ein freundlicher Anruf, ob ich denn zufrieden gewesen sei, ob ich denn eventuell ein Abo abschließen wolle. Ich bekundete glaubhaft, das ich nicht wolle. Und dann war Ruhe.
Circa ein Jahr später rief ein sehr freundlicher Mann mit einer unglaublich schönen Stimme bei mir an und fragte unaufdringlich nach, ob ich nicht, weil ich ja schon mal ein Probe-Abo hatte, die Tageszeitung abonnieren wolle. Wollte ich immer noch nicht, redete mich aber schon ein wenig verkrampft heraus mit: Keine Zeit für eine Tageszeitung. Zeitgleich in schon leicht verklärter Erinnerung kramend fielen mir zwei in Berlin ansässige Projekte ein, die ich auf Grund des damaligen Zwangs-Lesens für mich entdeckt hatte. Seine folgende Anmerkung war wie ein perfekt geworfenes Lasso: »Wir haben da ja auch noch das Wochenend-Abo«. Und ich hörte mich sagen: »Na, nehm ich mal probeweise.«
Vermeintlicher Gesinnungswechsel zieht wohl unweigerlich auch einen Partnerwechsel nach sich, auf jeden Fall durchlebte ich die Trennung von einem und den Neubeginn mit einem anderen Mann. Der neue Mann ist Journalist. Bei einer großen westdeutschen Tageszeitung. Wir führten lange eine Fernbeziehung. An einem der ersten gemeinsamen Wochenenden in Berlin fand er unweigerlich meinen Wochenend-Abo-Lesestoff. Die dazu gehörigen Bemerkungen möchte ich der Verdrängung nicht entreißen. Aber Sätze wie: »Es gab ja durchaus Erhaltenswertes hinterm Zaun, aber warum gerade DAS überleben muss, versteht kein Mensch« und »Warum konnte nicht die Chance genutzt werden, um so was gleich mal abzuwickeln« gehörten zu den harmlosesten. Ich spürte, mit durchaus leichtem Entsetzen, das Bedürfnis, MEINE Zeitung zu verteidigen und argumentierte sachlich über Veränderung, zweite Chancen, die man jedem geben müsse und erklärte ausgiebig meine frühere Allergie gegenüber dem Propaganda-Organ, das es aber eben nicht mehr ist. Nun denn, Liebe macht bekanntlich mildere Urteile, die Neugier siegt meistens und auch die Druckerschwärze hat ihre Magie, also schnappte er die Lektüre und unterzog sie einem äußerst kritischen Blick. So ging das nun an jedem gemeinsamen Berlin-Wochenende. Gelegentlich hörte ich mal ein »Hm«, verbunden mit kaum sichtbarem Kopfnicken - ich begann ein Buch über Mimik zu lesen, um seine Zeichen zu deuten.
Es folgten unverfängliche Diskussionen über »kein schlechtes Layout« »nicht wirklich blöde Schreiber« »keine schlechte Themenmischung«. Ich las ein Buch über Psychologie um seine Botschaften zu verstehen.
Aber eines Tages fiel dann der Satz: »Hm, offensichtlich ist die Philosophie der zweiten Chance hier mal wieder bestätigt worden - na da ham wa ja mal Glück gehabt!«
Mein Bruder hat wie immer Recht: Die Wege des Herrn sind untergründig.
Ilona Sachs, 10437 Berlin
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/822367.die-wege-des-herrn-sind-untergruendig.html