Von der Erhabenheit
Spannend erzähltes Vermächtnis von Henning Ritter: »Verehrte Denker«
Dass die Gedanken frei seien, weiß schon das Volkslied zu preisen; ein heiterer, trotziger Aufschwung ist da Melodie geworden - wider die Fährnisse einer begrenzten und begrenzenden Realität. Büchners Danton aber liefert den heftig verzweifelten Gegenentwurf zur fröhlichen Feier des listigen, nicht zu fesselnden Gedankens; schon auf der ersten Seite des Dramas deutet Danton auf Julies Stirn: »Da, da, was liegt hinter dem? Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.«
Dies Bild, das die Unmöglichkeit bezeichnet, je hinters Denken eines anderen Menschen zu kommen, ist unsanft, ist grob, ist brachial; aus der Vergnügung am freien Gedanken wurde die Furcht vor dem Unerforschlichen, das durch fremde Köpfe geht.
Denken ist die Öffnung zur Wirklichkeit, und es bildet ebenso die Grenze, die wir tief in uns gegen das Außen errichten. In unserem wirbelnden Geist bleiben wir das nicht erfassbare Wesen; wir überschreiten im Denken alle Horizonte und haben darin doch gleichzeitig das Grab, das uns den Zugriff auf letzte Wahrheit in Ewigkeit verwehrt. Im Denken kommen wir unaufhörlich - im wahren Sinn des Wortes - zur Welt, doch wir kommen nirgends an. Den Gewinn dieses Widerspruchs birgt »Verehrte Denker« von Henning Ritter (Foto: imago), »fünf Porträts nach Begegnungen«.
Ritter, Begründer des Ressorts »Geisteswissenschaften« der FAZ, Ludwig-Börne-Preisträger und mit seinen »Notizheften« endgültig aufgestiegen zum Literaten des puren Denkens, wurde 1943 geboren und verstarb am 23. Juni 2013: Er hinterließ mit »Verehrte Denker« ein schönes Klugbüchlein. Ein wahrlich spannend erzähltes Vermächtnis.
Der Autor ist zehn, da bekommt sein Vater, Philosophieprofessor in Münster, Besuch von Carl Schmitt, nach Verstrickung in den Nationalsozialismus nunmehr »kaltgestellt«. Viel später besucht Ritter den alten Schmitt, den Philosophen der Staatsräson, und erfährt das Gefühl von der »existentiellen Wichtigkeit geistiger Gegenstände«. Dem jüdischen Gelehrten Jacob Taubes lauscht er ab, dass es in der Philosophie um die Wahrnehmung dessen geht, was mit der eigenen Erfahrung nicht messbar ist - so entsteht »Erhabenheit«. In der Skizze über den Berliner Philosophieprofessor Klaus Heinrich umkreist Ritter den Titel von dessen Habilitationsschrift »Versuch über die Schwierigkeit, nein zu sagen«. Porträts über Isaiah Berlin und Hans Blumenberg runden eine lebendige Menschenerzählung ab, die zugleich deutsche Geistesgeschichte von Benjamin bis heute aufleuchten lässt und Schlaglichter auf bundesdeutsche Universitätsgeschichte wirft, ein Energiefeld zwischen studentischem Flackern und professoraler Geduld, zwischen beunruhigender Neuerung (1968) und tapfer besinnungsverpflichteter Tradition.
Fünf Porträts und das Fazit: Dass Denken traurig macht, wie George Steiner schreibt, nimmt nichts von der Brechtschen Wahrheit, es sei eine Vergnügung. Voraussetzung für dieses Vergnügen freilich: Kraft für die Erkenntnis, dass wir trotz allen Fortschritts unvollkommene Anfangswesen geblieben sind. Wir kamen einer nachprüfbaren Lösung des Rätsels unserer Existenz, ihrer Natur und ihres Zwecks in diesem wahrscheinlich multiplen Universum keinen Zoll näher als Parmenides oder Platon. Aber Ritter offenbart: Das Reich des Geistes hat viele Wohnungen für diejenigen, die mit Fantasie Vergeltung üben wollen an der Wirklichkeit und den Ohnmachtserfahrungen in ihr.
Das durch Fragen ausgelöste Schwanken setzt ein Leben der ständigen Selbstprüfung aus. Ein Leben und - eine Gesellschaft.
Henning Ritter: Verehrte Denker. Zu Klampen Verlag Springe. 108 S., geb., 19,90 Euro.
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