Wladimir Kramnik hat stets das gleiche Ritual. Mit langen Schritten kommt der Ex-Weltmeister auf die Bühne, nimmt am Schachtisch Platz und putzt seine Brille. Noch einen Schluck Wasser, dann kommt das Zeichen zur nächsten Runde. Fünf sind beim Dortmunder Chess-Meeting seit vergangenen Freitag schon gespielt, der Seriensieger liegt in seinem Revier standesgemäß vorn. Schon zehnmal hat der 38-Jährige dieses Traditionsturnier gewonnen.
In der Stille des Saales hört man kaum ein Flüstern. Nur wenn die kommentierenden Großmeister Klaus Bischoff und Sebastian Siebrecht dem Publikum über die Kopfhörer eine Schachanekdote erzählen, geht ein Raunen durch die Zuschauerreihen. Das Theater ist nicht ganz so voll wie früher, viele Fans verfolgen die Partien zu Hause im Internet. Die junge Generation kennt es kaum anders.
Am Dienstag wählte Kramnik im Spitzenduell gegen Peter Leko mit Weiß die Englische Eröffnung und zeigte im Partieverlauf seine ganze Klasse. Er glänzt mit einem schönen Springeropfer, das der Ungar nicht annehmen kann. Es wäre zu gefährlich. »Ich spielte den Zug intuitiv, um eine aktive Stellung zu erhalten«, erklärte der Sieger. »Es war eine Partie mit vielen taktischen Finessen. Auch Leko hatte starke Züge, aber in Zeitnot verlor er den Spielfaden.«
Michael Adams bewegte an diesem Tag auch die weißen Steine und nutzte ein Versehen seines Gegners Wang Hao zum Punktgewinn. Hinterher sagte der Engländer: »Keiner hatte einen klaren Vorteil, bis Wang Hao dieses Malheur passierte.« Von seinem bisherigen Ergebnis zeigt sich Adams selbst überrascht: »Es geschieht nicht oft, dass man in einem so starken Turnier in fünf Partien drei Siege erringt und zweimal remis spielt. Noch aber liegen vier Runden vor uns, in denen viel passieren kann.«
Der Auftritt Wangs, der chinesischen Nummer eins, ist in Dortmund zwar wechselhaft, doch bemerkenswert. Obwohl ihn heftige Ohrenschmerzen plagten, kämpfte er in jeder Partie. Nach dem vierten Spiel musste er den Arzt konsultieren, jetzt geht es ihm wieder besser. Zu einem feinen Sieg kam der Russe Dmitri Andrejkin, der den deutschen Großmeister Igor Khenkin mattsetzte. Als Fußballfan hatte Andrejkin am Wochenende zudem das Glück, den Sieg von Borussia Dortmund im Supercup gegen Bayern München live im Stadion zu erleben.
Italiens Vorjahressieger Fabiano Caruana erhielt schon vor dem Turnierende am Sonntag Glückwünsche: Der Weltranglistendritte wurde am Dienstag 21 Jahre alt. Am Mittwoch konnten die Schachfans ihre Idole bei einer Autogrammstunde hautnah erleben.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/829013.rituale-im-schach-revier.html