Zärtlicher Erzähler

Asher Reich: »Ein Mann mit einer Tür«

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit einer außergewöhnlichen literarischen Fülle beeindrucken mitunter Länder geringerer Größe. Zu ihnen zählt Israel. Zwischen klingenden Namen lassen sich von dort immer wieder neue erstaunliche Stimmen vernehmen. Ein beredter Beleg dafür ist Asher Reich (geb. 1937), der mit seiner Sammlung »Ein Mann mit einer Tür« zehn atemberaubend schöne Erzählungen präsentiert.

Es sind Kindheitsgeschichten aus den frühen 50er Jahren, wehmütige Erinnerungen, die in der orthodox eingerichteten jüdischen Welt des Jerusalemer Viertels Mea Shearim, in dem Reich selbst aufwuchs, angesiedelt sind. Ein geheimnissattes Leben voller Mythen und Traditionen; ein religiös geprägtes Zauberreich, zu dem das Übernatürliche gehört wie die Luft zum Atmen. Die abgeschlossene, in sich selbst ruhende Welt des sephardischen Judentums, die sich abgrenzt selbst zu den benachbarten Vierteln der Aschkenasen. Eine Lebensweise, die von Thora und Talmud, also von Gesetz und Legende, geprägt ist. Eine Lebenswelt, in der schillernde Persönlichkeiten reifen. Und mit ihnen ganz besondere Geschichten des alltäglichen Abenteuers.

Eine versunkene Welt. Voller Humor und nicht ohne ironische Nachsicht erzählt Reich die Erlebnisse des Ich-Erzählers und seines innigsten Freundes, des bärenstarken, bestens belesenen Leibale mit jeweils sechs Fingern, sechs Zehen und einem riesengroßen Penis ausgestattet, in dessen verstecktem Kellerraum es von Katzen und Fledermäusen wimmelt.

Ein Paar, wie es unterschiedlicher kaum sein, das es in Komik, Kreativität und Kraft mit Tom Sawyer und Huckleberry Finn aufnehmen könnte. Es geht Reich um das Überschreiten von Grenzen, das Ausprobieren des Anrüchigen, das Ausloten des Verbotenen, so auch in der ersten zarten Liebesgeschichte (»Wassermanns Tochter«), in der sich unser Held reichlich tölpelhaft anstellt und der schönen Schoschana einen steifen Arm beschert. Reich ist ein zärtlicher Erzähler und ein glänzender Figurenzeichner, ausgestattet mit dem intimen Blick.

Allen voran erstrahlt das Bild seiner scharfzüngigen, Ohrfeigen austeilenden, klatschsüchtigen Mutter. Die »flog auf Klatsch wie die Biene auf den Honig …« In solchen Wendungen erweist sich Reich als hintersinniger Virtuose des stil- und treffsicheren Vergleichs. »Der Erfolg der Fischhändlerin peinigte sie, wie der Durst an Land gezogene Fische quält.« (»Die Fischhändlerin«) »Er wirkte blass wie eine Zwiebel.« (»Der fremde Hausierer«) - die 300 Seiten des Buchs sind voll solcher n Sprachbilder. Beobachtungsgabe, Fabulierkunst und eine angemessene Verdichtung treiben Reich zu mitreißenden Porträts all der weisen und kauzigen Figuren, die das kleine Viertel bevölkern.

Und doch: Schattengleich huscht zuweilen die Vergangenheit über die skurrile Szenerie. So ist der fremde Hausierer mit der Taube auf der Schulter, dessen Backenbart an Kaiser Franz-Josef erinnert, eine exotische Attraktion für die Kinder. Plötzlich jedoch »brach er in Tränen aus und erzählte knapp von seiner Zeit im Vernichtungslager und von seiner Familie, die in der Schoa umgekommen war. Als die Taube ihn weinen hörte, flog sie sofort auf seine Schulter zurück.«

Einzigartig verschraubt in die Feinmechanik seines Handwerks ist der Uhrmacher Nathan aus der gleichnamigen Geschichte. Ihm, den die Kinder mit der Frage »Wie spät ist es?« aufzuziehen lieben, verdanken der Ich-Erzähler und sein Katzenfreund eine zeitlos gültige Definition: »Die Zeit ist die Seele der vergänglichen Welt, die aus der Ewigkeit des Unendlichen, gelobt sei Er, entstanden ist.« Diese Seele einer vergänglichen Welt bleibt wunderbar aufgehoben in Asher Reichs Erzählungen.

Asher Reich: Ein Mann mit einer Tür. Erzählungen. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, S. Fischer. 304 S., geb., 19,99 €.

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