Der Fluch der drei A

Michel Laub geht mit großer künstlerischer Kraft den Weg einer Befreiung

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein verstörendes Buch, ein Text von großer Eindringlichkeit, der in weit schwingenden Bögen immer wieder drei Worte umkreist, die - zufälligerweise alle drei - mit A beginnen: Auschwitz, Alzheimer und Alkohol. Da kommt man nicht umhin, eine »absteigende Linie« mitzudenken oder eine »aufsteigende«, wenn man so will - vom Erleben außerordentlichen Schreckens bis zum Alltäglich-Banalen. Von Alzheimer kann sich niemand befreien, von der Alkoholsucht vielleicht doch ...

Das treibt Michel Laub um: Dass es eine Vergleichbarkeit von Erfahrungen nicht gibt, sich aber trotzdem Verbindungslinien herstellen lassen, die für Menschen zu Fesseln werden können. Dass sein Großvater in Auschwitz war, lastet auf dem Enkel wie ein Fluch. Wie es geschah, dass des Großvaters ganze Familie umkam, dieser aber - wer weiß wie - überlebte und in Brasilien eine Familie gründete, er weiß es nicht. Denn der Großvater hat sich umgebracht, als sein Sohn 14 war, ohne jemandem von seinem Trauma zu erzählen. Er hat, so denkt man, seiner Vergangenheit größere Macht zugebilligt als seiner Verantwortung dem Kind, der Familie gegenüber. Woraufhin dieses Kind den Auschwitz-Schrecken in sich hineinnehmen musste, um den Vater zu verstehen.

Doch als Großvaters Sohn dann selber einen Sohn bekam, hatte der das Gefühl, damit gequält zu werden. Er wollte es abschütteln, konnte das Wort »Auschwitz« schon nicht mehr hören, das ihn gefangen nahm. Unentrinnbares Schicksal: Jude zu sein.

Das »Tagebuch« beginnt tatsächlich mit einem Sturz: João, ein Mitschüler, wird zu seinem 13. Geburtstag mit den Worten »Er lebe hoch« von den Klassenkameraden in die Luft geworfen, dann aber absichtsvoll nicht aufgefangen. Er bricht sich das Rückgrat, hat lange schlimme Schmerzen. Den Ich-Erzähler plagt immerhin ein Bewusstsein der Schuld, denn João war schon mehrfach misshandelt worden: João: ein »Goi« in einer Klasse jüdischer Kinder.

Die beiden freunden sich an, wechseln gemeinsam die Schule. Nun aber kehrt sich die Situation um, ist der Ich-Erzähler der Außenseiter, wird zwar nicht geschlagen oder in den Sandkasten eingegraben, aber bekommt beleidigende Zettel zugesteckt, womöglich sogar von João, woraufhin er sich zu rächen beschließt ...

Sehnsucht nach Stärke aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus - so erklärt er sich später, dass er zu trinken begann. Michael Laub hätte seinen Roman einem solchen Schema unterordnen können, wie es der Klappentext sogar suggeriert: »wie sehr Herkunft und Geschichte einen Menschen bestimmen können«. In dieser Richtung befindet er sich immer wieder auf Erklärungssuche, um dann doch wieder entschlossen die Möglichkeit seiner Rechtfertigung auszuschlagen.

Da begleitet der Leser den Erzähler auf einem schwierigen Weg. Von seiner Trunksucht spricht jener nicht gleich. Dass auch seine dritte Ehe zu scheitern droht, erscheint zunächst wie ein trauriges Schicksal, das man sich aus der Versehrtheit des Ich-Erzählers begreiflich macht. Ist es nicht verständlich, dass er die Nachricht von der Alzheimer-Erkrankung des Vaters auf seine Art zu ertränken sucht?

Aber, nüchtern geworden, fragt er sich doch, was ihn mit dem Vater verbindet, was ihn von ihm trennt. Er muss sich die ganze Erbfolge des Nicht-Verzeihen-Könnens vor Augen halten - die Lieblosigkeit, die der Vater bei seinem Vater vermutete und er bei ihm. Dieses Abgekehrtsein, das auch seine Frau an ihm beklagt, wenn er betrunken ist.

Man kann nicht anders, als zu vermuten, dass es Michel Laubs eigene Geschichte ist. Das Buch konnte er wahrscheinlich erst schreiben, als er den Teufelskreis durchbrochen hatte. In kunstvoller Sprache, von Michael Kegler ins Deutsche gebracht, wird Persönlichstes ausgebreitet, das man beim Lesen indes in größere Zusammenhänge bringt.

Eine ethische Fragestellung: welche Macht man der Geschichte über sich selbst zubilligt, ob persönliche Verantwortung nicht immer wieder neu ansetzen muss. Theoretische Antworten, das versteht man beim Lesen, gibt es nicht, weil es, leider, historische Fronten gibt, weil Menschen auf verschiedene Weise von Gewalterfahrungen betroffen sind.

Michel Laub: Tagebuch eines Sturzes. Roman. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. Klett-Cotta. 176 S., geb., 19,95 €.

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