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Tod in eisiger Wildnis des Aragaz
Von Heinz Odermann
Die Jahreswende 1914/15 war von einer menschlichen Tragödie gezeichnet, die zu den großen Dramen der Kriegsgeschichte gehört. Verschwiegen bis auf den heutigen Tag in den Kriegsberichten der deutschen und türkischen Obersten Heeresleitungen oder verfälscht zu heldischen Sagen verhungerten und erfroren oder stürzten völlig erschöpft von den scharfkantigen Kämmen des Aragaz 80 000 Mann der 3. türkischen Armee.
Am 1. November 1914 hatten die Russen als Antwort auf den deutsch-türkischen Angriff vom 29 Oktober gegen ihre Schwarzmeerflotte und die Häfen von Odessa, Sewastopol, Feodosia und Noworossisk eine Entlastungsoffensive gegen den Norden der Türkei eröffnet. Am 22. Dezember begann der türkische Gegenschlag mit 100 000 Mann bei minus 35 Grad in den schneeverwehten Bergen des Kaukasus in Höhen von 2000 bis 3800 Metern. Den Oberbefehl übernahm der 33-jährige Kriegsminister Enver Pascha. Den Operationsplan hatte der deutsche Chef des türkischen Generalstabes, Bronsart von Schellendorf mit seinem Leiter der Operationsabteilung, Oberstleutnant von Feldmann, ausgearbeitet. Stabschef der 3. Armee war Oberst Guse. Zusammen mit Schellendorf hatten Guse und mehre deutsche Divisions- und Regimentskommandeure eine starke Position bei Enver Pascha; und doch wollten sie es nicht wissen: Die Soldaten waren schlecht ausgerüstet, elendig bekleidet und miserabel verpflegt. Die Tragödie wiederholte sich im Winter 1916/17 mit 60 000 gefallenen Türken bei gleicher menschenverachtender Führung. Der Kommandeur der 14. Infanteriedivision, Ludwig Schraudenbach, schreibt in seinen Erinnerungen ein Jahrzehnt später- «Nackte Füße waren die Regel oder ein Stück Haut eines gefallenen Tieres, mit Riemen oder Schnur um die Füße geschnürt. Von den Hosen hingen Fransen und Fetzen und durch die Löcher sah die Haut...» Wohl noch nie in der tragischen Kriegsgeschichte bis zu diesem Feldzug wurde eine Armee von der eigenen Führung so zu Grunde gerichtet - aus degeneriertem Denken, aus Korruption und Betrug. Der Krieg nährte die herrschende Kaste, die aus der Tragödie noch Vorteile zog: Sie verschob Lebensmittel, Winter kleidung und Kriegsmaterial. Diese Beobachtung ist die eines Zeugen, des letzten Generalstabschefs des türkischen Heeres, des Deutschen Hans von Seeckt (1866- 1936), nach 1920 Chef der deutschen Heeresleitung bis 1926. Keiner der Offiziere, die nach Kriegsende ihre Erinnerungen schrieben, beantworten die Frage, wie er das Siechtum der Kampftruppen hinnehmen konnte. Die Erklärung liegt wahrscheinlich in der Gewohnheit des militärischen Denkens: Nicht das Menschenleben zählt, sondern die Erfüllung der Aufgabe. Und die Aufgabe wurde er füllt. Mit dem Blutzoll der Türken wurden Hunderttausende Russen im Kaukasus gebunden und nicht an der Ostfront in Schlesien und Ostpreußen eingesetzt.
Die deutsch-türkische Militär-Allianz ist wesentlich älter als die Entscheidungen des Bundessicherheitsrates von 1999 tausend deutsche Panzer modernster Bauart sowie Kampfhubschrauber und Schiffseinheiten für die Türkei bereitzustellen. 1835 bat Sultan Machmud II. den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. um einige Offiziere zur Ausbildung seines Heeres; unter den abgesandten war Hauptmann Helmuth Graf von Moltke, später Feldmarschall und 1870 Sieger von Sedan. Nennenswerte Erfolge blieben dieser und späteren Gruppen in den zerrütteten Verhältnissen des Landes versagt, bis 1877/78 Russen und Bulgaren bei Pleven die Türken besiegten und Sultan Abdul Hamid II. den deutschen Botschafter in Konstantinopel bestürmte, dringend Militärhilfe zu geben. Die Deutsche Militärmission begann 1882 ihre Tätigkeit unter Oberst Kahler, ein Jahr später über nahm Generalmajor Colmar von der Goltz (1843-1916) die schwere Arbeit, eine marode Armee zu modernisieren. Nach dem Militär kam die Wirtschaft. Die Deutsche Bank und Siemens erhielten 1888 die Konzession zum Bau der anatolischen Bahn. Wilhelm II. stärkte das Bündnis nach Kräften. Zwei Mal besuchte er das osmanische Reich, 1889 und 1898, hielt markige Reden, in denen er den deutschen Schirm über 300 Millionen Mohammedaner ausbreitete.
Nicht erst seit Beginn des ersten Weltkrieges baute die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) ihre Strategie auf das Bündnis mit der Türkei auf. Die Reichsregierung steckte in die türkische Kriegsfähigkeit rund 850 Millionen Goldmark, zusätzlich etwa 435 Millionen Goldmark in den Ausbau des Straßen- und Eisenbahnnetzes und in den Bau von Brunnen in der Wüste Arabiens. Mehr als 30 000 Mann des Deutschen Orientkorps dienten im türkischen Heer und in der Marine, vor wiegend als Truppenführer, Stabsoffiziere und Instrukteure, darunter allein 214 Offiziere in der Kaukasus-Armee. Der Neffe des Grafen Moltke von 1835, auch ein Moltke, 1914 Chef der OHL, fasste die strategischen Aufgaben im August in vier Punkten zusammen: 1. Angriff gegen Russland im Kaukasus, um die Ostfront zu entlasten; 2. Angriff gegen England am Sueskanal, um die Westfront zu entspannen; 3. Schließung der Meerenge der Dar daneilen, um Russland im Süden abzuschnüren, und 4. Proklamation des «Heiligen Krieges» aller Mohammedaner, um Russland, England und Frankreich in ihren Kolonien anzugreifen. Neben Moltke waren Feldmarschall Liman von Sanders (1855-1929), Chef der Deutschen Militär mission seit 1913, und Erich von Falkenhain, nach Moltke Chef der OHL, 1917 Befehlshaber einer Heeresgruppe in Palästina, leidenschaftliche Verfechter einer intensiven Bündnispolitik. Zu den bekannten Namen deutscher Militärführer im Orient gehört auch Franz von Papen, Generalstabschef der Heeresgruppe Falkenhain, 1932 Reichskanzler, 1933-34 Vizekanzler Adolf Hitlers und von 1939- 1944 NS-Botschafter in Ankara, sowie Admiral Wilhelm Souchon (1864-1946), Befehlshaber der deutschen Mittelmeer division, ab Herbst 1914 Oberbefehlshaber der türkischen Flotte. Die türkischen Streitkräfte waren deutschbestimmt bis zur preußischen Exerzierordnung, die den Türken überhaupt nicht einging. Die schwere Artillerie lieferte Krupp, die Schlachtschiffe und Kreuzer die kaiserliche Marine - die «Goeben» schoss mit tür kischer Flagge unter dem Namen «Yavus Sultan Selim», die «Breslau» unter dem Namen «Midilli», und SMS «Kurfürst Friedrich Wilhelm» trug den hoffnungsvollen Namen «Chaireddin Barbarossa», am 8. August 1915 sank es nach britischem Torpedotreffer im Marmarameer. Die deutschen Offiziere und Mannschaften wurden mit hohen Gehältern in den Orient geschickt und erhielten in den türkischen Streitkräften einen höheren Dienstgrad.
In der Geschichte der deutsch-türkischen Allianz liegt ein fortdauerndes deutsches strategisches Interesse, mit Waffenlieferungen und Instrukteuren die Bedrohung Russlands an seiner kaukasischen Südflanke aufrecht zu erhalten und ein Motiv für das aktuelle deutsche Interesse, die Europäische Union mit der Türkei bis an die Grenze des Irans auszudehnen. Die Kontinuität der Allianz reicht vom preußischen König über den deutschen Kaiser bis zu Christdemokraten und jenen Sozialdemokraten, die sich von jeder sozialdemokratischen Tradition losgesagt haben. Die Schlange wechselt zwar oft ihre Haut, doch nie ihre nützlichen Giftzähne (Jean Paul).
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