nd-aktuell.de / 20.06.2000 / Politik / Seite 12

Figur und Dingwelt ohne Täuschung

Astrid Volpert

Auch wenn hochdotierte Ausstellungen manchmal anderes zu suggerieren versuchen: die Kunst ist keineswegs am Ende. Zwar veränderten technische und gesellschaftliche Umbrüche der›90er Jahre radikal deren Gestalt, ?dw Ritual&der Präsentation und sogar ihren Begriff. Dennoch wird manch beklagter Verlust auch bewusst herbeigeredet. So heißt es u. a. immer wieder, Kunst sei eine imaginäre Größe, deren Maßstäbe und Traditionslinien zerbrochen sind. Dies verführt mitunter sogar Akademieprofessoren zu kuriosen Ratschlägen an ihre Studenten. Die sollten sich nämlich lieber mit Marketing und PR beschäftigen, als den Gesetzen des Zeichnens nachzuforschen ...

Eine in Geschichte und Gegenwart so brüchige Stadt wie Berlin bietet, abgesehen von hochgepuschten Trend-Ereignissen, im weitgefächerten Nebeneinander von Hoch- und Subkultur eine spannungsreiche Projektionsfläche für verschiedenste Stile. Die reale Größe der Kunst ist ihr Facettenreichtum. Dabei wird die «Leitwährung Malerei» keineswegs aufgegeben. Gerade junge Künstler zeigen voller Lust und mit bemerkenswerter Qualität, wie sie in diesem alten Medium einen Neuanfang wagen. Ein Beispiel dafür bietet zur Zeit in Oberschöneweide der Ratz-Fatz-Klub. Das ausgestellte Spek trum experimenteller Malerei und grafischer Blätter fußt auf solidem Fundament moderner Formgebung und handwerklicher Tradition.

Leveke Bosse und Edna Niclas studieren noch an der Burg Giebichenstein in Halle. Beide kommen aus einem angewandten Bereich. Von der Keramik wechselten sie .in die.ireien Ausbildungsklassen. Edna Niclas setzt sich bei den Professoren Thomas Rüg und Frank Ruddigkeit mit der Präsenz des Menschen, mit dem Problem der Gestaltung von Körper und Sinnlichkeit auseinander. Entschieden zieht sie die klare Linie ihres Kohlestifts über das Papier, zeigt Gesichter und Haltungen ihrer Modelle, die Ruhe und Nachdenklichkeit ausstrahlen. Auch kleinere, in Tusche ausgeführte Formate sind klar strukturiert. Im in der oberen, also hinteren Fläche des Papiers mittig platzierten «Rückenakt» erreichen Spannung und Ausdruckskraft ihren höchsten Wert. Leveke Bosse aus der Klasse von Antje Scharfe und Azade Köker hingegen bevorzugt abstrakte Bildkompositionen, die den ex perimentellen Dialog zwischen Material und Farbe ebenso planmäßig wie lustvoll improvisiert auskosten.

Die kommunale Galerie Pankow fand in den letzten Jahren aus einem oft zufälligen Ausstellungsmix dank der Arbeit der Kuratorin Jule Reuter zu einem spannenden Profil, das regelmäßig Aspekte aktueller Kunstdiskurse berührt und die Aufmerksamkeit der Besucher über lokale Grenzen hinaus auf sich zieht. Dies trifft auch auf «plus» zu. Die Ausstellung ist mehr als bloße Addition von drei Positionen junger Malerei. Sie kann als Beleg für den Fakt gelten, dass die Aura des gemalten Bildes durch seine digitalen Nachfolger nicht ersetzbar ist. Allerdings gibt sie auch klar zu verstehen: Keiner kann heute mehr so tun, als wäre alles beim Alten und in «bewährter» Art zu bewältigen. Diese jungen Maler arbeiten konzeptuell. So dient die im trüben Wasser schwimmende Ente von Leon Kleinbaum, Absolvent der Braunschweiger Kunstakademie, als Indiz für den Verlust großer Themen, die dieses Medium Jahrhunderte lang beherrschten. Seine als Serie produzierten angeschnittenen Bilder werden da zu Zeichen der fragmentarischen Existenz dieser Welt, die als Ganzes nicht mehr schaubar ist.

Ein Austauschstudium an der Canberra School of Art in Australien und die Konfrontation mit der Kultur der Aborigines regte Claudia Poetzsch, zur Zeit Meister Schülerin an der Berliner Hochschule der Künste bei Marwan, an, in ihren Gemälden die widersprüchlichen Beziehungen von Mensch und Natur zu thematisieren. Entstanden sind acrylfarbene Landschaftsbilder, gemalt auf industriell gefer tigte Schwämme. Auch Edward Weldon, vom Londoner Chelsea College kommend, bevorzugt «nützliche» Interieurs der Dingwelt, die er flächig, fast naiv poetisch ins Bild setzt. Die rationale, kühle Sachlichkeit der Malerei aller Drei verweigert sich einem fragwürdig erscheinenden illusionierenden Farbrausch. Das ist ihr Plus. Statt mit oberflächlichen Reizen zu verführen, soll das Gewohnte neu gesehen werden. Sehen ist denken. Dieser Anspruch ist eine Herausforderung, auch an das Publikum.

Leveke Bosse, Edna Niclas: bis 23. Juni im Ratz-Fatz, Schnellerstr. 81, Berlin, Mo-Do 13-18, Fr 15-19 Uhr- «plus»: bis 24 Juni, Galerie Pankow, Breite Str. 8, Berlin, Di-Sa 15-20 Uhr