Von Steffen Schmidt
«Kein Vitamin-Verbot!» - so schreit es seit Wochen knallgelb von den Plakatwänden. Und - so richtig sympathisch antikapitalistisch - «Stoppt das Pharma-Kartell!» Vor kurzem erschien noch ein grüner Aufkleber mit dem Aufruf zu zwei Demonstrationen gegen einen ominösen «Codex Alimentanus».
Tatsächlich protestierten am Montag in Berlin-Marienfelde wie schon am Sonnabend in der Innenstadt rund 1000 per Bus angereiste Demonstranten gegen eine Veranstaltung im Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucher schütz und Veterinärmedizin (BgW).
Was geht dort Geheimnisvolles vor? Dort trifft sich in dieser Woche die Kommission für Ernährung und diätetische Lebensmittel des Codex Alimentarius. Letztere ist eine gemeinsame Einrichtung der Welternährungsorganisation FAO und der Weltgesundheitsorganisation WHO, die bei dem Berliner Treffen Empfehlungen für die Dosierung von Vitaminen und Mineralien in so genannten Nahrungser gänzungsmitteln verabschieden will. Für Dr. Mathias Rath - dessen «Gesundheitsnetzwerk» die Demonstrationen organisierte - ist das der Versuch, den Menschen freien Zugang zu Vitaminen und Information über diese Stoffe zu verbieten. Denn - so seine Darstellung in Berlin sollen alle Länder auf restriktive deutschen Vorstellungen eingeschworen werden. Hier zu Lande gilt nämlich alles, was mehr als die dreifache empfohlene Tagesdosis an Vitaminen enthält, als Medikament. Und das braucht eine amtliche Zulassung.
Und das trifft ganz unmittelbar Dr. Rath. Denn der vertreibt seit zwei Jahren von den Niederlanden aus, vorher aus den USA, hochdosierte Vitamin-Cocktails. Deren Dosierung liegt teilweise um das Zwanzigfache über den offiziellen Empfehlungen. Überdies wirbt Rath auf seiner Internetseite und in seinen Publikationen mit eindeutigen Heilaussagen. Schon das würde seine «Vitaminformulas» zu zulassungspflichtigen Arzneimitteln machen. Er selber sieht sie als bloße Nahrungser gänzung. Denn nach seiner Darstellung sind Herzinfarkte und viele andere Krankheiten nichts weiter als Vitaminmangelerscheinungen.
Schuld an diesen Krankheiten - so die Redner bei einer von Rath organisierten Gesundheitskonferenz im Berliner Estrel- Hotel - ist die Pharmaindustrie, namentlich die deutsche. Gegen die hatte der 45- jährige Mediziner bereits 1998 in einer Broschüre zu einem «Berliner Tribunal» alle Register gezogen. Da wurde die Beteiligung der I. G. Farben am Holocaust bemüht, um den Konzernen neuerlichen Massenmord vorzuwerfen. Eine einstweilige Verfügung des Berliner Landgerichts kritisiert die Broschüre als ein Konglomerat von «Tatsachenverdrehungen, Anschwärzungen und schlichten Unwahr heiten». Ob dieser Feldzug nur ein besonders cleveres Marketing ist oder ob Rath wirklich so davon überzeugt ist, der einzige Mediziner zu sein, der klar sieht - wer weiß? Denn wer die bisherigen Verhandlungen der Codex-Kommission verfolgt hat, weiß, dass die restriktiven französischen, norwegischen und deutschen Vor schlage kaum eine Chance haben. Einige englischsprachigen Länder haben schon 1998 zu Protokoll gegeben, dass es mit ihnen Grenzwerte nur für Stoffe gibt, bei denen eindeutige Beweise für eine Gesundheitsgefährdung vorliegen. Und die gibt es bislang nur für die Vitamine A und D
Nun könnte Rath ja einfach eine Zulassung seiner Präparate als Medikament beantragen. Immerhin beruft er sich auf eine Vielzahl von Heilerfolgen. Doch da gibt es ein Problem: Er müsste klinische Studien vorlegen, die eine Heilung belegen. Studien, bei denen eine Kontrollgruppe mit einem Scheinmedikament (Placebo) behandelt wurde und wo die Vitaminpatienten signifikant häufiger gesund wurden als die Kontrollgruppe. Solche Studien allerdings existieren bisher offenbar nicht. Auf Räths Berliner Konferenz wurden zwar beeindruckende Einzelschicksale präsentiert, doch > placebokontrollierte Doppelblindstudien (bei denen weder der behandelnde Arzt noch der Patient weiß, wer den Wirkstoff erhalten hat), wurden erst für die nächste Zukunft versprochen.
Die Magdeburger Pharmakologen Uwe Tröger und Frank P Meyer hatten bereits 1998 nach Anfragen von Patienten recherchiert und keine Studie gefunden, die nach den gängigen medizinischen Standards die versprochene Wirkung nachweisen. Es gebe zwar eine große Zahl von Studien, die für eine vorbeugende Wir kung von einzelnen Vitaminen bei bei Herz-Kreislauf-Krankheiten sprechen, etwa für die Vitamine C und E, doch in keiner klinischen Studie sei das Zusammenspiel von mehr als 4 Vitaminen gleichzeitig untersucht worden. Dr. Raths Mixturen enthalten aber 35 verschiedene Bestandteile - Vitamine, Mineralien, Aminosäuren und pflanzliche Sekundärstoffe.
Auch eine andere zentrale Aussage - die einem seiner Bücher den Titel gab - stimmt so nicht. Anders als Rath versichert, erleiden nicht nur Lebewesen, die kein körpereigenes Vitamin C produzieren Herzinfarkte. Das beträfe dann nämlich nur Menschen, Affen und Meerschweinchen. Doch, wenn man den Standardwer ken der Wildtiermedizin glaubt, trifft auch Elefanten oder Ratten der Schlag; von manchem überfütterten Haustier gar nicht zu reden.
Dr. Rath ficht das alles nicht an. Seine Medizin, so bescheinigte ihm auf seiner Konferenz ein Redner von der US-Organisation «People against Cancer», sei die der Zukunft. Dank dem Handel übers Internet und seinem Beraternetzwerk werde Rath noch über die deutschen Bürokraten triumphieren. Und «der Doktor», wie ihn Anhänger respektvoll nennen, ist denn auch nicht zu bescheiden, sich in eine Reihe mit Luther zu stellen. Dazu passt, dass er kürzlich für 1,5 Millionen Mark ein Gebäude in Wittenberg erwarb, gegenüber der Schlosskirche, wo Luther einst seine Thesen anschlug. Das Haus will er in den nächsten Jahren für geschätzte 10 Millionen Mark zum «Tagungszentrum Natürliche Gesundheit» ausbauen. ? m ? ? ??>, < ›<
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/865123.die-vitamin-verschwoerung.html