Stöbern im offenen Kleingrab

Wilhelm Genazinos Essays »Idyllen in der Halbnatur«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Emanzipation? Das ist die Hand, die sich aus dem Pakt löst. Es ist die nunmehr lose Hand, die von jenem Werkzeug ließ, das die Dinge unseres Lebens zu einem vermeintlich Ganzen zusammennagelt. An solchem Werkzeug kann die Hand gefährlich linkisch werden und unbeholfen - und am Ende werden wir von der Maschine Leben gleichsam »bei der Hand« genommen. Die Hand am Werkzeug ist ein anderer Ausdruck für das entsetzliche: Vorwärts! Nein, emanzipiere dich davon, zieh deine Hand zurück von den Hebeln, dreh dich um, schau weniger voraus!

Das ist das betörende Flüstern, das aus den Büchern von Wilhelm Genazino kommt. Die Poesie dieses Schriftstellers lotst den Leser sanft aus der Prosa der realen Verhältnisse, und so stehst du plötzlich herrlich einsam in der Lächerlichkeit der Welt, deren Teil du doch bis eben warst. Mit dieser ganzen Angst vor der Zeit, da etwas wider Erwarten geschehen könnte. Mit dieser Furcht vor der Wahrheit, dass du dein Leben an einem Platz verbringst, der nicht der deine ist. Das Leben irgendwo, irgendwie, mit wem auch immer - ver-bringen? Heißt es nicht: ein Mensch, der sich schuldig machte, wird ins Gefängnis ver-bracht? Sehr beziehungsreich. Man könnte glatt fragen: In welcher Strafanstalt ver-bringen denn wir täglich unsere Existenz, indem wir die Stunden hauptsächlich mit dem verbringen, was uns aufgegeben ist? Unsere Intelligenz, sie ist doch verderblich oft zum Niederkämpfer jenes Geistes geworden, dem wir so glühend und gern folgen wollten. Oder? Und nicht mal die Wolken, die vom heftigsten Sturm gejagt werden, sehen je so gehetzt aus wie wir am superflachen Boden.

»Idyllen in der Halbnatur« heißt der spannende Essayband Genazinos. Er schreibt zum Beispiel von der »Eigeninnenfremdsprache« und meint damit eine Sehnsucht, die dem Leiden an folgender Tatsache entspringt: »Wir können noch soviel und noch so eloquent reden, es verschwindet nicht das Gefühl eines Mangels, der gleichzeitig die einzige Gewissheit unseres Sprechens ist: Die längste Zeit unseres Lebens verbringen wir als nicht ausgedrückte Individuen.« Genauer kann eine Einführung in Entfremdung nicht sein. Das kleine Kind, das erstmals »Scheiße« sagt, ist sprachlich unverstellt - um sofort von den Erwachsenen in jene Kultur zurückermahnt zu werden, die immer auch »ein Akt der Selbstbehinderung« (Genazino) bleiben wird: zwischen Denken und Sprache ist beizeiten ein Zollkontrollpunkt errichtet. Hochgerechnet aufs Leben: Mehr und mehr wird der Mensch, der ganz bei sich ist, zurechtgewiesen: Komm endlich wieder zu dir! Zurechtweisung: die ewige Notwendigkeit und die ewige Tragödie.

Genazino schreibt über Kafka, Kleist, Strindberg und Stifter, er wird in den »Bamberger Vorlesungen« zum wunderbar plastischen und witzigen Forscher im eigenen Romanwerk (und somit in der Kleinbürger-Geschichte der Bundesrepublik) - stets findet in den Aufsätzen dieser typische staunende Spaziergang durchs wuselnde Dasein statt. Ein Staunen, das James Joyce »die schockhafte Erleuchtung im Alltag« nannte. Ein Staunen, das aus dem Erleben der Gleichzeitigkeiten erwächst: von Verstehen und Nichtverstehen, von Erlebnis und Langeweile - von Erlebnis inmitten der Langeweile.

Die Aufgespaltenheit des Ichs verteidigt Genazino vehement gegen die Ideologen der Ganzheit, des »Identitätszwanges« (Adorno). Denn was ist denn Leben? Eine Laune des Absoluten, das sich mit der unendlichen Komödie unserer Charaktere ein bisschen die Ewigkeit vertreibt. Der Penetranz eines Sinn- und Arbeitsstrebens, in dem das Ich vernichtet wird, setzt der Büchner-Preisträger lieber den fluchtförmigen Menschen entgegen, der »noch der Ungemütlichkeit einen Reiz abgewinnen möchte«. Der sich »ein kleines Glück im größeren Unglück« zu organisieren weiß. Inmitten so vieler »Niederlagengefühle« und unserer prinzipiellen »Bruchbudenhaftigkeit«.

Mit großer Liebe spricht Genazino von Schubladen. Als ein »immerzu offenes Kleingrab« bezeichnet er sie. »In jeder Schublade sammeln sich Überbleibsel, die oft über Jahre hin an der Grenze ihrer Vernichtung entlangexistieren, die dann aber, durch einen plötzlichen Gedächtnisschwung ihrer Benutzer, augenblicksweise wertvoll erscheinen.« Der Dichter nennt dies die »Wertkippe, auf deren Scheitel die Dinge überleben«, und die sie poetisch macht. Auch in unseren seelischen Schubladen liegt Verstreutes, wartet auf ein Zeichen, auf einschießende Erinnerungen. Die aber nur dann zu ganz neuen Wahrnehmung werden, wenn der Mensch ein »Praktiker des Augenblicks« ist, bereit für jenen »anderen Zustand« (Musil), den man Glück nennen könnte: jenes Schöne, erlebbar nur im bewussten Zusammendenken von Werden und Vergehen.

Diese Aufsätze wecken Lust auf Achtsamkeit: In allem, was wir im Moment sehen (und tun!), spielt sich jenes »langgezogene Drama« ab, das wir Biografie nennen, und blicken wir aufs scheinbar allzu Bekannte unseres Lebens zurück, ergeben sich doch immer neue »Bedeutungssplitter«; am Ende jeder Erinnerung steht die Erkenntnis, dass wir in der Regel stets nur den Anfang von etwas verstanden haben. Auch von uns. Ist es das tiefe Empfinden vom Stillstand des Lebens, der uns in die Unruhe von Wünschen und Handlungen versetzt, oder ist es unsere eigene Unruhe, die all das Unbewegliche, Unabänderliche, Gleichförmige, das uns unter die Augen, Hände und Gedanken kommt, zur Verwandlung antreibt?

Nichts in der Klugheit dieser Texte trumpft auf; eher scheint es, als sei sich der Autor in jedem Satz seiner Isolation bewusst - jener unabdingbaren Existenzweise, will sich das Individuum retten gegen die Übergriffe einer totalen Zerstreuung, die hirngleiche Massen produziert. Wenn er über das Schreiben nachdenkt, so tut Genazino das in einer Weise, die einen Fall von allgemeinem Dasein erkennen lässt: »Literatur ist der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen.« Ist Leben denn etwas anderes?

Wilhelm Genazino: Idyllen in der Halbnatur. Essays. Hanser Verlag München. 240 S., geb., 18,90 €.

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