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Ein armes Volk »ist zum Fürchten«
Tanja Maljartschuk über die Misere in der Ukraine und eine junge Frau, die ihrem Glauben an »Höheres« treu sein will
Dreimal wird im Roman von einer fliegenden Frau mit geblümtem Kopftuch berichtet: Sie verhindert einen Selbstmord, indem sie einen alten Professor von den Schienen hebt. Eine von ihrem Mann Misshandelte, die man im Frauenhaus nicht aufnahm, die im Wald fast erfroren wäre, bringt sie ins Krankenhaus. Ein Bisonkalb, das die Jäger schon im Visier haben, entführt sie in die Lüfte. Wundergeschichten, nach denen Lena, die Heldin dieses Buches, geradezu süchtig ist. So eine Retterin möchte sie auch gern sein.
Alles hatte mit der Prophezeiung einer Kindergartentante begonnen. Sie würde einmal »ganz groß rauskommen«, meinte »Frau Dutt«, die selbst von der Direktorin manches zu erleiden hatte, denn sie war Russin. Ihrer Sprache merkte man es an. Der Roman spielt in der Westukraine, wo, zumal nach der Unabhängigkeit, alles Russische in Verruf geraten war. Die kleine Lena besteht ihre erste Mutprobe. Sie geht zur Direktorin, um sich für »Frau Dutt« einzusetzen, damit man ihr die russische Sprache erlaubt. »Raus, du Abtrünnige!« So wird sie angeschrien. »Frau Dutt« sollte ein öffentliches Verfahren bekommen, aber bevor man sie rausschmeißen konnte, traf sie ein Kugelblitz.
Wie es einem Mädchen, einer jungen Frau ergeht, die Ungerechtigkeit nicht ertragen kann, davon erzählt Tanja Maljartschuk mitreißend und mit viel Sinn für Komik. Wobei es sich eher um Tragikomik handelt, denn es steht schon schlimm um ein Land, das solche Helden wie Lena braucht - und ihnen bloß ein »Raus!« entgegenschleudert. Immer wieder läuft Lena gegen Mauern. Medienaufmerksamkeit findet sie, als sie publik macht, dass Straßenhunde an Chinarestaurants verkauft werden. Aber dass ihre behinderte Freundin zu einem ordentlichen Rollstuhl kommt, das erreicht sie trotz übermächtiger Anstrengungen nicht.
Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, in der Westukraine geboren, das sie im Roman »San Francisco« nennt, hat einen Text verfasst, der all jene beschämen müsste, die von Ferne über das Land reden, als hätten sie Rezepte für eine lichte Zukunft in der Tasche. Solche Vorstellungen hatte Lena als kleines Kind: Die Ukraine als ein »riesiges Weizenfeld ... und alle sind glücklich und reich«. »Ein armes Volk« dagegen »ist zum Fürchten«. Die Autorin hat genau beobachtet und durchdacht, wie aus dem materiellen Elend eine Verwahrlosung kommt, die das Elend nur noch vertieft: Selbstsucht und Trägheit, Gewalt und Machtmissbrauch, Herzlosigkeit sogar den allernächsten Menschen gegenüber.
Es ist im Grunde ein bitter trauriger Roman, der den Leser niederdrücken würde, wäre da nicht diese Hauptfigur. Lena, diese Kämpferin: Ist sie eine »Heilige« oder eine Verrückte? Nein, sie handelt so, wie sie wahrscheinlich noch in sowjetischer Zeit erzogen wurde, die hier nicht erwähnt wird. Das moralische Ideal wurde in der Realität auch damals mit Füßen getreten, aber es wurde proklamiert und existierte als eine Gegenwelt, die Lena nun in einer Art Don-Quijoterie behauptet. Naseweis mitunter, aber mit bewundernswerter Energie. Durch nichts lässt sie sich beirren in ihrem Glauben an Tugenden und Werte, an etwas »Höheres«, das es doch geben muss. Denn der Mensch lebt nicht nur, »um zu essen und - Pardon - zu scheißen«.
Voller Witz, voller Phantasie, voller Tatkraft ist sie - und die Autorin ist dabei sehr genau, was die Einzelheiten jener Verhältnisse betrifft, mit denen sie zusammenstoßen muss. Im Grunde ist sie Lena verwandt. Auf ihre Weise will sie Lesern die Augen öffnen, damit sie wenigstens in ihrem kleinen Alltag das Unannehmbare erkennen und zu ändern versuchen. Doch weil Tanja Maljartschuk eben doch anders als Lena ist, lebt sie nun in Wien.
Lena kann am Schluss womöglich wirklich fliegen - oder was ist aus ihr geworden? Das Wort »Wunder« im Titel hat einen gar nicht wunderbaren Beigeschmack. Denn je aussichtsloser die Lage, um so mehr wird auf die glückliche Fügung gehofft.
Tanja Maljartschuk: Biografie eines zufälligen Wunders. Roman. Aus dem Ukrainischen von Anna Kauk. Residenz Verlag. 268 S., geb., 21,90 €.
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