Die Einladung war vor Tagen verschickt worden. Am Samstagmorgen sollte Verena Bentele in Sotschi in die Hall of Fame des paralympischen Sports aufgenommen werden, in einer festlichen Zeremonie, gesponsert von einem weltweit agierenden Kreditkartenunternehmen. Bentele, die bei Winter-Paralympics zwölf Goldmedaillen gewonnen hatte, wird nun nicht ans Schwarze Meer reisen. »Es ist ein ganz klar politisches Zeichen an Russland«, sagte die neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung im ZDF-Morgenmagazin. Sie möchte gegen den militärischen Vorstoß Wladimir Putins auf der ukrainischen Halbinsel Krim protestieren.
In den vergangenen Tagen hat das Internationale Paralympische Komitee (IPC) fast stündlich Absagen erhalten. Die Eröffnung der elften Winter-Paralympics an diesem Freitag wird weitgehend ohne ranghohe Politiker, Prinzen und Prominente auskommen, zumindest ohne jene aus den westlichen Industrienationen. Dass Bentele und die Bundesregierung sich spät diesem Chor anschließen, hat den Deutschen Behindertensportverband nicht wirklich überrascht. »Das war eine politische Entscheidung, die auch meine persönliche Zustimmung findet«, sagte Verbandspräsident Friedhelm Julius Beucher.
In den Bundestagsfraktionen löste Benteles Ankündigung eine Debatte über die Wirkmächtigkeit eines Boykotts aus, doch auf dem Olympiagelände von Sotschi hielt sich die Aufregung in Grenzen. »Das ist enttäuschend«, sagte Philip Craven, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees. »Es ist schade, dass die Regierung sich da einmischt.« Worte wie diese hat Craven in den vergangenen Tagen immer wieder gebraucht, nachdem anfangs die USA und Großbritannien das Fernbleiben ihrer Minister angekündigt hatten - und ihnen im Laufe der Woche immer mehr Nationen folgten.
Für Philip Craven werden es die letzten Winter-Paralympics als Präsident sein, nach drei Amtszeiten wird er 2017 ausscheiden. Gespannt warten viele der fast sechshundert Athleten in Sotschi auf die Eröffnungsfeier. Wie wird ihr Vordenker dem russischen Präsidenten gegenüber treten? Bislang äußert sich das IPC sehr vage zur Militärintervention ihres Gastgebers. Stattdessen pflegen das Komitee, die nationalen Verbände und deren Sponsoren mit Pressemitteilungen ihren paralympischen Trott. Darin geht es um moderne Schlitten, hohe Fernsehquoten, soziale Medien der Sportler. Ein glaubwürdiges Zeichen der Solidarität für die dreißig Sportler aus der Ukraine, deren Angehörige sich wenige hundert Kilometer weiter vor einem Krieg fürchten, ist nicht zu vernehmen. Stattdessen hofft das IPC auf die »besten Winter-Paralympics aller Zeiten«.
Philip Craven, 1973 Weltmeister im Rollstuhlbasketball, ist 2001 beim IPC angetreten, um den paralympischen Sport global wachsen zu lassen. Einer seiner Lieblingssätze lautet: »Die Welt muss im 21. Jahrhundert zusammenrücken, und die Paralympics sind ein Weg, das zu bewirken.« Der studierte Geograph kann auf sympathische Art vermitteln, wie behinderte Menschen durch Sport ihre Grenzen ausloten. Er hat vor zehn Jahren ein Positionspapier zum Thema Menschenrechte herausgebracht, in dem er gesellschaftliche Teilhabe fordert. Er hat in London die Agitos-Stiftung auf den Weg gebracht, das Wort Agito stammt aus dem Lateinischen: »Ich bewege mich«. Das IPC möchte Kriegsversehrte und Terroropfer für den Sport gewinnen - im Sudan, in Afghanistan oder Syrien.
Was sind diese gesellschaftlichen Maßnahmen wert, wenn Craven die Paralympics nun allein auf Sport reduziert? In einem halbstündigen Interview Mitte Januar, vor dem Konflikt in der Ukraine, verteidigte er die Vergabe der Spiele an Sotschi. Im Quartier des IPC in Bonn sagte er: »Die westlichen Medien sollten einsehen, dass sie die Welt nicht nur aus ihrer Perspektive bewerten können. Sie sollten sich auf die Kultur anderer Länder einlassen. Auch wenn wir gegen politische Grundsätze sind: Wir müssen in diese Länder reisen und über heikle Themen sprechen.« Damals wurde Putin für Enteignung, Korruption und Umweltschäden kritisiert. Inzwischen ist ein Vorstoß dazugekommen, den die westlichen Industrienationen als Völkerrechtsverletzung bewerten.
Die Weltpolitik will der oberste Paralympier den Politikern überlassen, das waren seine Worte nach der Ankunft in Sotschi. Im positiven Sinne aber ist er gern politisch: »Die Paralympics können Barrieren überwinden.« Seit Jahrzehnten leben behinderte Menschen im Schatten der russischen Gesellschaft. Das soll sich nun ändern, auch durch eine intensive Berichterstattung im Staatsfernsehen. Etwa 500 000 Eintrittskarten sollen für die Wettkämpfe in Sotschi schon verkauft worden sein, sagt das russische Regierungsmitglied Dmitri Kosak. Täglich werden Fakten über die neue Barrierefreiheit in der Stadt verbreitet. Gute Nachrichten für das IPC, findet Philip Craven. Und für Russlands Regierende.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/926185.ohne-politiker-prinzen-und-prominente.html